Wie ich meinen Vater fand

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Ich bin im Internet, tippe „Kriegsgräberfürsorge“ in das Suchfeld und drücke die Freigabetaste. Die gesuchte Internet-Seite wird auf-geblendet. Ich gebe bei Kriegsgräber „Kaunas“ ein, Kowno war der frühere polnische Name.

Ich erfahre, dass man das Gelände mit Hilfe von Mitarbeitern der Verwaltung und von Zeitzeugen 1994 gefunden hatte. Die Grenzen des Geländes wurden 1995 und 1996 durch Sondierungsarbeiten abgesteckt. 1998 begann man mit einer Geländesäuberung und im folgenden Jahr wurden die Gräber gekennzeichnet.

Am 9. September 2000 wurde der Friedhof eingeweiht. Ich lese: Die Namen von 1422 Soldaten, die bereits während des Krieges hier bestattet wurden, sind auf sechs Stelen genannt, die beidseitig des Hochkreuzes hier aufgestellt sind.

Die Gräber weiterer Toter, deren sterbliche Überreste nach Kaunas umgebettet wurden, erhalten eine Kennzeichnung mit stehenden Steinkreuzen. Diese werden nach Abschluss der Umbettungen und Identifizierungen mit den Namen versehen. Die Gräber gibt es also noch. Ist mein Vater namentlich bekannt?

Ich gebe alle mir bekannten Daten ein. Auf der nächsten Seite fragt man meine persönlichen Daten ab. Nach der Freigabe erhalte ich die Nachricht, dass keine Person dieses Namens bekannt sei. Gleichzeitig empfiehlt man, mit weniger Daten die Suche fortzu-setzen. Ich reduziere die Daten nach und nach und gebe zum Schluss nur noch den Nachnamen ein. Die Suche ist erfolgreich, es werden an die dreißig Gefallene aufgeblendet, nach Vornamen sortiert. Theodor muss ganz hinten sein. Ich nehme mir Blatt für Blatt vor. Ich bin aufgeregt, mir wird kalt und heiß.

Ich habe Herzklopfen. Auf der letzten Seite entdecke ich ihn: Name, Vorname, Dienstgrad, Geburtsdatum, Geburtsort, Todesdatum und Todesort stimmen. Ich habe ihn gefunden. Im Internet wird sogar eine Anfahrtsskizze angeboten. Es gibt auch Reisen zu den Kriegs-gräbern.

Ich werde sein Grab besuchen. Aber nicht um Abschied zu nehmen, sondern um ihn kennen zu lernen.

Da bist du endlich, wird er sagen, ich habe lange auf dich warten

müssen. Du bist alt geworden, aber es scheint dir gut gegangenzu sein.

Bist du mit mir zufrieden, habe ich deine Erwartungen erfüllt, werde ich ihn fragen. Nicht immer, aber im Großen und Ganzen schon, wird er vielleicht antworten. Du hast mir gefehlt, sage ich zu ihm, mit dir wäre alles anders, besser geworden. Wir hätten viel unter-nehmen können. Mit deinen Freunden aus Gelsenkirchen, dem Ehepaar S., hätte ich mich gut verstanden, sagt er.

Eure Kajakfahrten in Finnland haben mich begeistert. Ich wäre gerne dabei gewesen. Ich werde ihn bitten, auf seinen Enkel Oliver aufzupassen. Ich werde ihn bitten, auf mich zu warten. Es sind ja nur noch wenige Jahre, bis wir uns wiedersehen, in Frieden ohne Kampf. Wenn ich dann gehe, verspreche ich ihm, wiederzu-kommen.

Jetzt, wo wir uns gefunden haben, sollten wir uns so schnell nicht wieder aus den Augen verlieren. Das werde ich ihm sagen und beruhigt und froh die Heimreise antreten. Und ich werde mein Versprechen halten. Ich werde wiederkommen.

vom 08.März 2010

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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