Lernen ohne Ende

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Er war angekommen, angekommen im Herzstück des Unternehmens. Es war der Bereich, der die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Geschäftsbetrieb auch im Wettbewerb mit anderen Unternehmen schuf. Es war die Abteilung Mathematik. Schule, Lehre und Studium hatten ihn – ohne dass ihm das bewusst war – auf diese Tätigkeit vorbereitet. Die Summe der diskontierten Lebenden war ihm nicht unbekannt. Mit Barwerten konnte er umgehen. Auch wann was interpoliert werden musste, war ihm geläufig. Aber das war eigentlich nur Theorie. Jetzt lernte er, die Theorie praktisch umzusetzen. Er entwarf und kalkulierte neue Tarife, errechnete Deckungskapitalien, Beitragsüberträge und Technisch gestundete Beiträge. Für das amtliche Genehmigungsverfahren bereitete er die Geschäftspläne vor. Was er neu hinzugelernt hatte, vermittelte er weiter an interessierte Kollegen. Er hatte eine abwechslungsreiche Arbeit, Langeweile konnte nicht aufkommen. Die Bestände wurden mit dem altbewerten Hollerith-Verfahren technisch aufbereitet. Auch damit hatte er zu tun. Mit Steckkarten sortierte und summierte man die großen Lochkartenbestände. Das war zeitaufwendig. Schnell und sicher konnte man dagegen mit den neuen Elektronischen Rechenmaschinen arbeiten. Dazu mussten die riesengroßen Lochkartenbestände auf Magnetbänder gespeichert werden. Wenn die Magnetbänder in den Magnetbandeinheiten rotierten, wusste man, dass das Ergebnis nicht lange auf sich warten ließ. Später gab es hierfür Wechselplatten und Plattenspeicher. Gedruckt wurde mit einem Kettendrucker. Lautlos war der nicht. Statt Verbindungen auf Steckkarten herzustellen, mussten die Arbeitsverfahren programmiert werden. Auocoder, Cobol, Assembler, PL1 waren die geläufigen Programmiersprachen. Das  musste man alles lernen. Später kam das Teleprocessing, die Arbeit am Bildschirm, dazu. Er erlebte eine Zeit permanenten Umbruchs. Er lernte Kollegen anderer Unternehmen kennen. Man tauschte sich aus, denn die technischen Probleme waren überall die gleichen. Es gab Treffen auf Verbandsebene. Es wurden Arbeitskreise eingerichtet und Aufgaben gemeinsam diskutiert und Lösungen erarbeitet. Er nahm auf europäischer Ebene an einigen Treffen in Paris und Versailles teil und hielt dort auch Vorträge. Sie wurden für das dort herrschende europäische Sprachgewirr simultan übersetzt. Lehrreich für ihn waren die mit den Eurokollegen auf Englisch geführten Gespräche. Man verstand sich. Er durfte auch an einigen Auslandsreisen teilnehmen, er flog in die USA, nach Schottland und Finnland. Es war ein ständiger Lernprozess. Einen Stillstand konnte man sich in der Branche nicht erlauben. Es gab auch unruhige Zeiten. Immer dann, wenn ein von ihm entwickeltes Verfahren real eingesetzt wurde, stellte sich eine große Anspannung ein. Es ging zumeist um viel Geld, Fehler durften nicht passieren. Und wenn Fehler passierten, dann mussten Verfahren für die Beseitigung präsent sein. Er beteiligte sich an der überregionalen Entwicklung von Kontrollprogrammen. Auf dem Sektor der Verfahrensentwicklung ist es inzwischen ruhiger geworden. Vieles was früher selbst entworfen werden musste, wird heute als fertiges Produkt angeboten. Aber auch heute muss ständig hinzugelernt werden. Daran hat sich nichts geändert. Der Lernprozess endet nie. Die ständige Beschäftigung mit dem Neuen fordert nach geistiger Beweglichkeit.

 

So spricht Sherlock Holmes seinen Freund Dr. Watson auf das merkwürdige Ereignis mit dem Hund in der Nacht an: „Gibt es noch irgendeinen anderen Umstand, auf den Sie meine Aufmerksamkeit lenken möchten?“ „Der Hund in der Nacht hat nichts getan.“ „Genau das war das merkwürdige Ereignis“, bemerkte Sherlock Holmes.

Wenn nichts geschieht, dann müssen wir besonders aufmerksam sein. Hinter dem Nichts verbergen sich künftige Probleme, die wir aufmerksam erkennen sollten. Auch aus Vorahnungen können wir lernen, wir tun es aber oft viel zu wenig.

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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