Warum

W

21.März 2003. Es ist 23.00 Uhr. Seit Stunden sitze ich vor dem Fernseher und verfolge die Bilder, die uns aus dem Irak übermittelt werden. Ich habe Angst. Es kommt ein Gefühl in mir hoch, das ich fast 60 Jahre verdrängen konnte. Diese Detonationen, diese Explosionen, Feuer, Qualm und Leuchtfeuer am Himmel. Mir ist nicht gut. Immer wieder die Frage in mir: W A R U M ? Ich kann und will all dieses, was sich dort im Irak in diesem Augenblick abspielt nicht bewerten.  „Abspielt“ ist kein gutes Wort, denn ein Spiel ist das, was ich hier sehe nun wirklich nicht. Mir fehlt in diesem Augenblick der passende Ausdruck.

Meine Gefühle sind anderer Art. Ich spüre die Angst die ich vor 60 Jahren als 5-jährige im Luftschutzkeller sitzend hatte. Vor meinen Augen sehe ich Kinder, die dort, genau wie ich damals, irgendwo in einem Keller sitzen und die Welt nicht mehr begreifen. Ich spüre die Hitze des Feuers und schmecke den Qualm in meinem Mund. Ich wünsche mir: Bitte, kein Kind soll so etwas erleben und ich weiß gleichzeitig, diese Bitte ist Unsinn. Es gibt keinen Krieg ohne Opfer. Ich sehe Panzer, Flugzeuge und Soldaten und frage mich immer wieder: W A R U M ?

Vor etwa fünf Jahren habe ich meine Geschichte aufgeschrieben und geglaubt, nach so langer Zeit hätte ich meine Kindheitserlebnisse als “es war einmal” abgelegt. Die letzten Stunden haben mir gezeigt, 60 Jahre sind eine lange Zeit, aber nicht lang genug für solch schreckliche Kindheitserinnerungen. Wir wohnten in der Schuhstraße Nr.2 und sind gleich bei den ersten Angriffen auf Hannover ausgebombt worden. Meine Eltern mit uns drei Kindern, hatten alles verloren und fanden in Sarstedt bei meinen Groß-  eltern eine bescheidene Unterkunft. Auf gutes Zureden vom Chef meines Vaters, der im Krieg war, zog meine Mutter mit uns wieder nach Hannover in die Schmiedestraße. Nun wohnten wir im Haus der Kaffee-Rösterei und Kolonialwaren Carl Capelle, gleich neben dem Leibniz-Haus, das damals noch in der Schmiedestraße stand. Meine Erlebnisse habe ich in dem Buch “erlebt-erkannt-erinnert” – Zeitzeugen schreiben Geschichte(n), das vom Seniorenbüro Hamburg e.V. verlegt wird, aufgeschrieben (es wird im Sommer 2003 erscheinen).

Die Bombenangriffe auf Hannover wurden im Jahr 1943 immer stärker. Mein Vater kämpfte an der Kriegsfront. Meine Mutter lebte mit uns drei Kindern in der Innenstadt von Hannover. Mein Bruder war 16, meine Schwester 13 und ich 5 Jahre alt. Wir wohnten – wie oben erwähnt – über dem großen Kolonialwaren Geschäft Carl Capelle. Die Kellergewölbe in diesem Haus hatten alle sehr dicke Mauern, so dass wir bei Fliegeralarm nicht in öffentliche Luftschutzbunker laufen mussten.

Abends wurden alle Fenster peinlich genau verdunkelt. Es durfte kein Licht nach draußen fallen. Beim Schlafengehen mussten alle Kleidungsstücke ordentlich, in der Reihenfolge abgelegt werden, dass man sie bei nächtlichem Alarm schnell wieder anziehen konnte, auch ohne Licht.

Es war der 9. Oktober 1943, da hatte ich, fünfjährig, mein schlimmstes Kriegserlebnis. Wieder einmal heulten die Sirenen auf. Meine Mutter weckte mich und es hieß in aller Eile anziehen und in den Keller. In der Ferne hörten wir die ersten Bomben fallen. Ich saß auf einem Sack Mehl. Neben mir standen die mit Wasser und Sand gefüllten Eimer, das war Pflicht. Sie mussten in jedem Keller zur ersten Brandbekämpfung bereit stehen. Vor mir lagen die von mir so gehassten Gasmasken. Bei Proben habe ich immer geschrien, wenn ich sie aufsetzen sollte. Sie machten mir Angst.

Die Einschläge kamen immer näher. Es dröhnte in meinen Ohren. Die feindlichen Flieger legten ganze Bombenteppiche. Ich hörte meine Mutter sagen: “Sie kommen immer näher, dieses Mal bekommen wir auch was ab.” Da passierte es. Direkt vor unserem Kellerfenster war eine Phosphorbombe gefallen. Es war furchtbar. Der Druck dieser Bombe hatte uns alle erfasst. Ich, die nie eine Gasmaske aufsetzen wollte, schrie aus Leibeskräften nach ihr. Meine Mutter erzählte später einmal, sie habe mir beim Aufsetzen ganze Haarbüschel ausgerissen. Davon hatte ich in meiner übergroßen Angst nichts gemerkt. Es waren mit uns noch einige Leute im Keller. Sie versuchten, mit Säcken und anderen Gegenständen das Fenster zu verbarrikadieren. Noch heute sehe ich vor meinen Augen, wie meine Mutter von dem Druck der herabfallenden Bomben immer wieder vom Kellerfenster ins Innere des Kellers geschleudert wurde. Alle schrien. Ich hörte immer nur: “Wir müssen das Fenster dicht machen!” Auf unser Haus war auch eine Bombe gefallen, aber das starke Gewölbe hatte gehalten. Die Bomber zogen ab und hinterließen ein anderes, furchterregendes Geräusch. Es brannte.

Jemand kam und sagte: “Wir müssen hier heraus, im Lager brennt schon der Zucker.” Es gab kurze Diskussionen über das für und wider des Verlassens des Kellers. Meine Mutter wollte unbedingt heraus. Sie sagte immer wieder: “Ich will hier drinnen nicht ersticken.” Nun wurden Bettlaken nass gemacht und jeder bekam eins umgehängt. Meine Mutter fasste mich an eine Hand, in meiner anderen Hand war die für mich bestimmte Tasche. (Jeder hatte ein paar wichtige Dinge zu tragen. So auch ich mit meinen fünf Jahren). In der anderen Hand meiner Mutter war ihre Tasche, an diese musste meine dreizehnjährige Schwester fassen. Immer wieder schärfte Mutti uns ein, niemals loszulassen, auch wenn wir mal fallen sollten. Wir verließen den Keller.

Ich weiß heute nicht mehr, ob ich geweint oder geschrien habe. Ich weiß nur, meine Angst war riesengroß. Noch heute beim Aufschreiben dieser Geschehnisse spüre ich etwas von dieser Angst. Unser Haus brannte lichterloh. Auf der Straße floss in den Straßenbahnschienen der brennende Phosphor und aus den Fenstern der gegenüberliegenden Geschäftshäuser (ehemals „Sternheim“) schlugen für mich unendlich große Feuerschwaden heraus. Alles wurde noch begleitet von einem ohrenbetäubenden Orkan. Meine Mutter trieb uns immer wieder zur Eile an. Sie wusste, lange konnten uns die nassen Bettlaken nicht mehr schützen. Noch heute glaube ich, in meinem Leben nie wieder so schnell gelaufen zu sein. Ich war ja erst fünf Jahre alt. An der brennenden Marktkirche vorbei erreichten wir die Masch mit ihrem See.

Wir waren dem Inferno entkommen.

 

Annemarie Lemster, Frühjahr 2003 

Über den Autor

Annemarie Lemster

Jahrgang 1938
Verkäuferin

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