Streetview

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 Ich bin in Berlin-Neukölln geboren und aufgewachsen. Verwandte und Freunde wohnten dort. Neukölln war mein Lebensmittelpunkt, bis ich Mitte 1960 das erste Mal geheiratet habe und weggezogen bin. Die Pannierstraße und die Gegend um den Hermannplatz war und bleibt natürlich meine nähere Heimat.

Im verflixten 7. Jahr wurde ich geschieden, kurz darauf ging ich in den Außendienst. Die Karriereleiter ging über Celle und Mainz nach Hamburg. 27 Jahre wohnten wir in Norderstedt. „Nach Berlin kriegen mich keene 10 Pferde mehr“, hab ich immer getönt, und nach so langer Zeit ist das auch keine Floskel mehr, zumal gerade dort fast nur noch Ausländer wohnen und diese Ecke deshalb zu einer „no-go“-Area geworden ist. Aber im Innern bleibt man seiner Heimat doch irgendwie verbunden.

Vor Jahren hatte ich mir einen Camcorder gekauft. Damit war das ‚Filmen‘ ein Kinderspiel geworden. Irgendwann, so um 1992 herum, habe ich bei einem Dienstbesuch in Berlin mal die Gelegenheit gehabt, mit diesem Ding durch Neukölln zu wandern und habe das Miniband dann auf VHS überspielt. Oft habe ich es mir zwar nicht angesehen, aber wenn, dann war es  immer so, als wenn man nach Hause gekommen wär.

Ich war vor ein paar Tagen wieder in Neukölln, sogar ganz lange in der Pannierstraße. Ich hatte diesmal viel mehr Zeit und konnte mich in aller Ruhe dort umsehen, denn – ich wandelte auf den Spuren von „Google Streetview“ durch die Straße! Das ist schon ein ganz merkwürdiges Gefühl. Man kann sich aus diversen Kamera-Positionen genau in das Panorama hineinversetzen, als wenn man dort steht, und man kann sich nach Belieben umsehen.

An fast allen Häusern sind bauliche Veränderungen vorgenommen worden: Eingangstüren wurde verkleinert und die Fassaden umge-staltet, fast alle ehemals vierstöckige Häuser haben jetzt sogar ein fünftes Stockwerk dazu bekommen, offenbar sind die Dachge-schosse ausgebaut worden. 

Nicht ein einziges Geschäft von damals ist übrig geblieben! Selbst die alten  Straßenbäume gibt es nicht mehr, dafür stehen dort junge, auch schon wieder recht hoch gewachsene Bäume in Reih’ und Glied. Alles zu sehen. Leider kann man nicht in die Höfe gucken, eigentlich schade.

Ich kann meine Emotionen heute aber nicht mehr wie anno 1992 mit anderen teilen. Mehr als 50 Jahre nachdem ich von dort weg-gezogen bin, lebt von den Verwandten und Freunden von damals keiner mehr.

aufgeschrieben am 15.03.2011

Über den Autor

Fritz Schukat

Jahrgang 1935
Prüfdienstleiter

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