Schulfreundschaft

S

Wir waren wieder einmal unterwegs, Ottokar und ich. Es war mittlerweile schon Tradition, dass wir einmal im Jahr auf große Fahrt gingen. Viel Geld hatten wir nicht. Das günstigste Verkehrsmittel waren unsere Räder.

Ich hatte mir meins vor einigen Jahren während der großen Ferien erarbeitet. Ich arbeitete damals bei einem Hoch- und Tiefbau-Unternehmen als Hilfskraft, d.h. der Polier setzte mich für vielfältige Aufgaben ein. Ich versorgte die Mannschaft mit Getränken und Verpflegung, half  beim Auf- und Abladen von Baumaterialien, pflasterte Innenhöfe und hub gelegentlich Gräben aus. Offensichtlich war man mit mir zufrieden; der Lohn reichte für den Kauf eines neuen Fahrrades, sogar mit Gangschaltung.

In den letzten Jahren waren wir in Holland, Belgien und Norddeutschland gewesen. Dieses Mal sollte es nach England gehen. Ottokars Schwester arbeitete zu der Zeit in einem Fellowship-Friendhouse in der Nähe von Eastbourne. Die wollten wir besuchen und dann auch weiter nach London fahren. Mitte der fünfziger Jahre war eine derartige Tour schon etwas ungewöhnlich und in Anbetracht unserer finanziellen Möglichkeiten sogar abenteuerlich. Übernachten wollten wir in Jugendherbergen und Youthhostels. Für Notfälle nahmen wir ein einfaches Zweimannzelt mit. Später stellte es sich heraus, dass wir das Zelt gut gebrauchen konnten.

Wir nächtigten einmal bei englischen Pfadfindern, die uns freundlich aufnahmen und uns an ihrem Lagerleben teilnehmen ließen. In Eastbourne zelteten wir auf dem Zeltplatz nahe der Steilküste.

Wir fuhren mit dem Zug nach Brüssel, das wir am späten Nachmittag erreichten. Wir holten unsere Räder aus dem Gepäckwagen und starteten sogleich Richtung Ostende. Wir fuhren die ganze Nacht durch. Ich erinnere mich daran, dass wir um Mitternacht Gent erreichten und am frühen Morgen im Hafen von Ostende ankamen. Wir nahmen dann die Fähre nach Dover, quälten uns die englische Steilküste hoch und machten uns auf den Weg nach Eastbourne.

Das südliche England ist eine liebliche Landschaft mit heckenumsäumten Straßen und Wegen. Gegen Mittag rasteten wir an einem kleinen Wäldchen. Ein Schild fiel mir auf: „Beware for the adders“ – man sollte also auf  Kreuzottern  achten. Wir ließen uns dadurch in unserer Mittagsruhe nicht stören. Die andere Straßenseite wurde von einer mannshohen Mauer begrenzt. Wir hörten Stimmen, die uns neugierig machten. Wir erklommen die Mauer und erblickten einen äußerst gepflegten Rasenplatz. Auf dem tummelten sich weißgekleideten Herren. Einige Herren trugen eine Schutzkleidung. Sie warfen sich einen kleinen, ebenfalls weißen Ball zu. Am Rande des Spielfeldes saßen einige Zuschauer, die aus uns unerfindlichen Gründen gelegentlich in lautem Jubel ausbrachen.

Man erblickte uns. Ein sportlich gekleideter Engländer kam zu uns herüber. Er fragte uns, wo wir herkämen. Er war sehr höflich und nahm es uns nicht übel, dass wir Deutsche waren. Im Gegenteil, er stellte sich vor und auch wir nannten unsere Namen. Er hieß Silverspoon. Silverspoon war begeisterter Kricketanhänger und dieses Spiel fand gerade auf dem Rasen statt. Er erklärte uns die komplizierten Regeln des Spiels. Wir verstanden nur Bahnhof. Bei diesem Spiel geht es darum, das Tor des Gegners zum Einsturz zu bringen. Die Tore bestehen aus Stäben  und Querstäben und werden von einem Schläger bewacht. Der Schläger schlägt den auf ihn zufliegenden Ball mit einer Schlagkeule möglichst weit ins Feld zurück. Verfehlt er den Ball, so muss der Torwächter den Ball fangen und versuchen, das gegnerische Tor umzuwerfen. Wir nickten freundlich und taten so, als hätten wir alles verstanden. Silverspoon war glücklich. Er meinte wohl, neue Anhänger für diesen Sport gewonnen zu haben und lud uns zu einer Tasse Tee ein. Da konnten wir nicht nein sagen.

Für uns war der Tee etwas gewöhnungsbedürftig, er wurde mit Milch und viel Zucker gereicht. Wir sahen dem Spiel noch eine Weile zu, ohne es zu begreifen. Es kam uns vor, wie eine Mischung aus Pinnchen-Schlagen und Schlagball. Die Feinheiten blieben uns verborgen.

Wir verabschiedeten uns von unserem neuen Freund und fuhren in den späten Nachmittag hinein. Am Abend trafen wir auf die Pfadfindergruppe. Wir nahmen am Abendgottesdienst teil, erhielten eine warme Mahlzeit und durften unser Zelt in ihrem Lager aufbauen. Nach diesem anstrengenden Tag gingen wir früh schlafen. Ich träumte von Mr. Silverspoon. Er erklärte mir noch einmal die Regeln und ich begriff wieder nichts. Ottokar meinte am nächsten Morgen, dass ich sehr unruhig geschlafen hätte. Ich hätte von toten Bällen gemurmelt und „…der Schläger ist aus!“ gerufen.

Damals hatte ich Ottokar nicht verraten, dass Mr. Silverspoon mir in einem Traumkursus versuchte, die Kricketregeln beizubringen. Viel geholfen hat es nicht. Ich kenne sie immer noch nicht. Ich vermisse sie auch nicht. Ich denke aber gerne an Mr. Silverspoon. So stelle ich mir einen englischen Gentleman vor: Er besitzt eine gute Aussprache, ist höflich und gut gekleidet. Als Gentleman nimmt er es mir sicherlich nicht übel, dass ich Kricket nichts abgewinnen kann.

aufgeschrieben am 23.03.2006

 

 

 

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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