Radio

R

Ich bin gerade mal sechs Jahre alt. Wir besuchen meine Großeltern. Die bewohnen für ein paar Wochen ein Zimmer im Bahnhofshotel. Ich muss noch erwähnen, dass man uns während des Krieges im südlichen Schwarzwald evakuiert hat. Ein Großteil der Familie hat das Ruhrgebiet verlassen und hält sich in weniger gefährdeten Gebieten auf. Und dazu zählen einige Gegenden im südlichen Teil des Großdeutschen Reiches. Die Großeltern versuchen so, die Verbindungen zu den Familienmitgliedern aufrecht zu erhalten. Wir sitzen unten im Gastraum des Gasthofs. Im Hintergrund höre ich ein laut vernehmliches Ticken. Das wird von einem Nachrichtensprecher unterbrochen. Er sagt: Feindliche Flugverbände bewegen sich Richtung Nürnberg. Es ist mit heftigen Angriffen zu rechnen . . . . Den Rest höre ich schon nicht mehr. Die Meldung endet wieder mit dem mir Angst einflößenden lauten Ticken. Wenn ich den Begriff Radio höre, muss ich immer an dieses unnatürliche Geräusch denken. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich davon freimachen konnte.

Nach dem Krieg trennte sich meine Mutter von einem sehr guten Fotoapparat und erwarb auf dem Tauschwege ein altes Röhrenradio. Das empfing nur die Mittelwelle. Den NWDR konnten wir noch gut empfangen. Die Empfangsqualität war gemessen an den heutigen Möglichkeiten miserabel. Wir fanden aber die Qualität nicht schlecht. Unsere Ansprüche waren nicht hoch und wir waren es zufrieden, dass wir am Weltgeschehen wieder teilnehmen konnten. Andere Sender empfingen wir nur dann, wenn die Heaviside-Schicht in der Ionosphäre es zuließ. Das mit der Heaviside-Schicht habe ich erst später erfahren. Sie reflektiert die Radio- und Funkwellen. Mit großer Begeisterung hörten wir Hörspiele, die regelmäßig über den Sender gingen. Mein Onkel Franz war technisch interessiert. Er hatte als Erster eine Musiktruhe mit einem UKW-Empfänger. Bei ihm hörten wir die Paul-Temple-Krimis mit Rene Deltgen als Privatdetektiv. Das waren damals Straßenfeger. Großartig waren die Rundfunkübertragungen von Sportveranstaltungen und hier im Besonderen vom Fußball. Die Oberliga West war unser sportlicher Mittelpunkt. Da konnten Nord, Süd uns Südwest nicht mithalten. Natürlich bleibt uns der vierfache Torschrei von Herbert Zimmermann 1954 beim Endspiel um die Weltmeisterschaft  immerwährend im Gedächtnis.

Wir wollten aber auch wissen, wie Sprecher und Musik in den Radioapparat kamen. Wir interessierten uns daher für alles, was mit Funk- und Radiotechnik zu tun hatte. Eine große Hilfe für uns waren Detektorgeräte, in denen geheimnisvolle Kristalle eingebaut waren. Die Funkwellen fingen wir mit Antennen ein, die wir hoch oben um Bäume wickelten. Die elektromagnetischen Wellen lieferten auch den Strom für unseren Zauberkasten. Batterien brauchten wir nicht. Das war spannend und nicht so langweilig, wie die am Draht hängenden Telefone. Rauschende Nebengeräusche störten uns dabei nicht. Es war Technik zum Anfassen. Die konnte man verstehen und selbst reparieren. Heute dagegen ist alles digitalisiert und verbirgt sich oftmals in einer Blackbox. Was nicht mehr funktioniert wird weggeworfen. Das konnten wir uns früher nicht erlauben. Zur Wegwerfgesellschaft hat man uns erst später umfunktioniert. Diese Entwicklung ist eigentlich schade. Heute haben wir es mit einem weltumspannenden Funknetz zu tun. Satelliten ersetzen die Heaviside-Schicht und ermöglichen eine störungsfreie Kommunikation. Störungsfreie Bild- und Ton-Übertragungen sind selbstverständlich geworden. Keiner denkt mehr daran, wie so etwas funktioniert. Wir waren damals neugierig und wollten alles wissen und waren erst dann zufrieden, wenn wir das Prinzip begriffen hatten. Unsere Leitsprüche waren Wissen und Machen. Daran hat sich bei mir bis heute nichts geändert.      

 

 

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

Neueste Beiträge

Kategorien