Nachtfahrt

N

Ich habe alles aufgebaut: Auf dem Projektionstisch steht der Filmprojektor, die an der Decke montierte Leinwand ist abgerollt. Sie schimmert blendend weiß; sie ist mit ei­ner hauchdünnen Glasbeschichtung versehen. Sie wird klare Bilder liefern. Am obe­ren Arm des Projektors habe ich die Filmrolle eingesetzt. Ich klemme den belichteten Filmstreifen hinter das Objektiv und führe ihn über Rollen zur Fangspule. Ich setze mich und starte den Projektor. Auf der Leinwand erscheint in großen, bunten Buch­staben: Moskau / Leningrad 1983.

Ich erinnere mich. Der Eiserne Vorhang war damals schon durchlässiger geworden. Das wollte ich erleben und mir ansehen. Moskau und Leningrad kannte ich nur aus Büchern und aus dem Fernsehen. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, Lenin, Stalin, Pe­ter den Großen und Katharina die Große persönlich kennen zu lernen. Und wie kommt man von Moskau nach Leningrad? Natürlich mit der Bahn, mit dem Nachtzug. Um 20 Uhr sollte es in Moskau losgehen. Mit dem Bus karrte man die Reisegesell­schaft zum Bahnhof. In Moskau gibt es viele Bahnhöfe, von denen Züge in alle Him­melsrichtungen fahren. Für Ortsfremde ist das alles verwirrend. Aber wir hatten einen Reiseführer, dem wir einfach folgten. Es war inzwischen dunkel geworden, und es regnete leicht. Ich wollte die Abfahrt auf Zelluloid bannen. Ich musste es heimlich tun. Filmen und fotografieren auf Bahnhöfen war nicht erlaubt. Der Zug wartete auf uns. Auf dem Nachbargleis stand der Transsibirien-Express. Das wäre auch etwas für mich gewesen. Aber ich wollte nach Leningrad und nicht nach Wladiwostok. Die Schlafplätze waren für uns reserviert. Wagen- und Abteilnummer konnten wir fließend lesen, die Beschriftungen dagegen nicht. Die kyrillischen Buchstaben waren uns fremd. In ein Abteil passten vier Personen. Da wir uns schon einige Tage kannten, störte ich mich an meine Mitschläfer nicht. Wir machten es uns bequem. Irgendwann hörte ich das Abfahrtsignal, und der Zug fuhr ruckelnd an. Die Nachtfahrt konnte beginnen.

Beruhigend waren die Radgeräusche, wenn der Wagen über Gleisverbindungsteile fuhr. Dabei ließ es sich gut schlafen. Die rhythmischen Geräusche signalisierten dem Schläfer: Es ist alles in Ordnung. Der Schlaf fand ein jähes Ende, wenn der Zug stand. Das ging nicht nur mir so. Auch meine Mitschläfer wachten auf. Jeder Schlaf­wagen hatte einen Betreuer. Es war zumeist eine Schaffnerin. Sie schaute nach dem Rechten und versorgte uns mit heißem Tee. Den konnte man die ganze Nacht ohne Aufpreis erhalten. Der Zug fuhr wieder an, und wir fielen in einen unruhigen Schlaf. Unruhig deshalb, weil wir den nächsten Stopp erwarteten. Ich habe in dieser Nacht Unmengen von Tee getrunken. Auch gefilmt habe ich in dieser Nacht viel. Das ging problemlos. Während wir auf den Bahnhöfen kontrolliert wurden, gab es im Zug kei­ne Kontrollen.

Um 8 Uhr erreichten wir Leningrad. Ein Bus brachte uns in unser Hotel. Es lag direkt an der Newa. Wir waren ziemlich müde. Die Nachtfahrt war für uns alle ungewohnt und unruhig verlaufen. Dennoch saßen wir 2 Stunden später wieder im Bus. Die ers­te Stadtrundfahrt war fällig. Die Nachtfahrt wurde nahtlos von einer Besichtigungstour abgelöst. Die Geschichte erzähle ich ein anderes Mal, wenn ich ausgeruht und wie­der klare Gedanken fassen kann. Auf der Leinwand flimmert mir in farbigen Buchsta­ben: Filmende entgegen. Ich spule den Film zurück und lege die Rolle in meinem Filmarchiv ab. Die Filmreise hat sich für mich wieder einmal gelohnt.

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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