Kalter Krieg im Manöver-Sandkasten

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Wenn alle Hände verdorrt wären, die kurz nach der Hitlerzeit die Finger zum geheiligten Schwur „Nie wieder Krieg!“ gehoben hatten, so wären die orthopädischen Hersteller toter Lederfäuste wohl Millionäre geworden. Gar nicht lange hatte es gedauert, und die Eidesleister hatten erst klammheimlich die Wiederaufrüstung betrieben und schließlich laut die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden gefordert. Die Vokabel „Krieg“ blieb freilich verpönt. Zwar sprach der Grundgesetzartikel 4 noch vom „Kriegsdienst mit der Waffe“, doch hießen die zuständigen Ressortchefs nunmehr „Verteidigungsminister“.

Die Wehrgesetze führten, auch wenn der Bundeswehrsoldat ein „Staatsbürger in Uniform“ heißen sollte, im Hinblick auf den eben genannten Grundgesetz-Artikel den Zivildienst ein. Selbstverständlich mussten junge Männer, die auf „Zivi“ reflektierten, die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensgründe nachweisen. Dieses geschah in den „Prüfungsausschüssen für Kriegsdienstverweigerer“ und in den Prüfungskammern, die als Berufungsinstanz angerufen werden konnten. Eine solche Kammer bestand aus zwei ehrenamtlichen Schöffen und einem von der Bundeswehr gestellten Berufsjuristen als Vorsitzendem. 1972 durfte ich als Schöffe in einer solchen Kammer lernen, mit weichen Verfahrensweisen man das Gewissen von Leuten ergründen kann, denen keine göttliche Erleuchtung durch einen brennenden Dornbusch u.ä. zuteil geworden war. Eine solche Kammer konnte ich nur als Beisitzer kennenlernen, weil ich als Angehöriger eines „weißen Jahrgangs“ ohnehin von der Wehrpflicht ausgenommen war. Wer um ein berühmtes geflügeltes Wort umzuwandeln – dank der „Gnade der frühen Geburt“ noch einiges von den Kriegsereignissen in seiner Kindheit mitbekommen hatte, wurde von den sensiblen Politikern nicht „gezogen“.

Die jungen Männer, die von der Kammer zu bewerten waren, erwiesen sich häufig als einfache Kerlchen mit etwas Idealismus. Einige von ihnen erfanden durchaus recht hübsche Geschichtchen, die ihrem Gewissen angeblich auf die Sprünge geholfen hatten. Die intelligenten Verweigerer hatten sich von berufsmäßigen Friedensfreunden helfen lassen und waren auf typische Argumente trainiert worden. Unter anderem hatten sie gelernt, dass man niemals zugeben sollte, seinem Liebchen auf dem Jahrmarkt einmal eine Blume geschossen zu haben.

Manche Prüfungsgespräche verliefen wie Sandkastenmanöver des Kalten Krieges, obwohl die Politik längst dabei war, dieses Gespenst durch die Ostverträge zu bannen. Lieblingsszenario einiger Schöffen war die Vorstellung folgender Situation: Stellen Sie sich vor, es ist Krieg, die Sowjets dringen in Ihr Elternhaus ein. Einer der Rotarmisten will Ihre Mutter vergewaltigen, bedrängt sie mit vorgehaltener Kalaschnikow. Für die Iwans nicht einsehbar, liegt hinter Ihnen – Ihr Vater ist Polizist – eine entsicherte Pistole im Regal. Sie könnten mit blitzschnellem Griff die Waffe an sich nehmen. Was also tun Sie?

Ein naiv gestrickter Anwärter auf den Friedensnobelpreis beharrt in diesem Schreckmoment darauf, auch unter solchen Umständen keinesfalls ein Mordgerät in die Hand zu nehmen. Ganz anders der Aspirant mit Argumentationstraining, denn der weiß, dass es außer der Notwehr auch eine Nothilfe gibt, zu der er sogar ethisch verpflichtet ist und sich sogar strafbar machten kann, wenn er sie nicht anwendet.

Statt dieses durch Nachhilfe wohlvorbereiteten Verweigerers stelle man sich einen naiven Gärtnergehilfen vom Dorf vor, der fast mit Tränen in den Augen darlegen möchte, seinem Gewissen sei dadurch auf die Sprünge geholfen worden, dass er nachts auf einsamer Landstraße ein Häschen überfahren habe. Noch lange hätten ihm schwere Albträume zu schaffen gemacht.

Wie er seine Gewissenserfahrung so in epischer Breite schildert, bullert ein Schöffe ohne jede Empfindsamkeit los: Jedermann wisse doch, dass Kraftwagen nichts als Mordinstrumente seien. Wie habe sich der Befragte da in ein Auto setzen können?! Der Effekt dieser Schockbehandlung: Der arme Junge bricht zusammen – durchgefallen!

Damals habe ich mir vorgenommen, ich würde einem Zivi, sollte ich im Alter seiner bedürftig sein, mit Achtung begegnen, denn ein anerkannter Zivildienstleister wäre einer, der durch eine harte Schule gegangen sein müsste. Aber nun, da ich die nötigen Jahre erreicht habe, wird es den Zivi alten Schlages bald nicht mehr geben.

erstellt am 28.01.2011

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

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