Käthe wird verfolgt

K

(von Hans Meier)

Käthe war um die sechzig Jahre alt, als ich sie im Jahr 2004 kennen lernte. Ich traf sie in Quickborn. Käthe war ein Mensch, der einem “ein Ohr abkauen” konnte, jedenfalls konnte sie sehr lange reden, ohne Luft zu holen. Und da ich ihr einmal von der Quickborner Geschichtswerkstatt berichtete, erzählte sie mir von ihrer Heimat Ostpreußen. Sie wurde in Deutsch-Krone geboren.

Ich traf Käthe immer häufiger, und wir tranken oft einen Kaffee, den sie ausgab. Doch irgendwann war sie verändert. Sie sagte, dass sie verfolgt würde, ein Mann beobachte sie. Ich dachte erst, dass sie sich täuschte oder dass sie sich wichtig machen wollte, doch ihr Mann, den ich inzwischen auch kennen gelernt hatte, bestätigte mir dies. Käthe wirkte seitdem sehr ängstlich auf mich. „Ich schleiche schon an den Mauern entlang und schaue ständig nach hinten und nach vorne“, sagte sie mir einmal. Irgendwann tauchte der Mensch dann am Bahnhofsplatz auf, weil er mittlerweile wohl herausbekommen hatte, dass sie in der Bahnhofsstraße wohnte. „Er sitzt ständig in seinem ‘Mercedes’ und wartet, bis ich herauskomme, oder er taucht irgendwo in Quickborn auf, wenn ich unterwegs bin”, erzählte sie.

Ihr Mann schlich ihr schließlich eines Tages hinterher und wollte den Mercedesfahrer zur Rede stellen, aber der gab Vollgas und fuhr davon. Auch Käthe, die mittlerweile des Ganzen schon überdrüssig war, lief eines Tages auf den Wagen zu, um den Mann zu Rede zu stellen. Auch da fuhr der Wagen mit Vollgas davon.

Die Zeit verging. Eines Tages traf ich Käthe wieder in der Fußgängerzone. Sie lud mich zum Kaffee ein und sagte, dass sie mir unbedingt etwas sehr Wichtiges erzählen müsse, denn in der bewussten Sache sei nun eine entscheidende Wende eingetreten. „Man hat ja so seine Beziehungen…”, deutete sie vielsagend an und deswegen hätte sie nun unter der Hand durch das Nummernschild die Adresse des Mercedesfahrers in Norderstedt herausbekommen. Sie hätte allen Mut zusammen genommen und dort angerufen.

Der Mann habe sich am Telefon für sein Verhalten bei ihr erst einmal entschuldigt. Dann erzählte er ihr, als er sie das erste Mal gesehen hätte, habe er seinen Augen nicht trauen wollen. Käthe würde bis aufs Haar genauso aussehen, wie seine im letzten Jahr verstorbene Frau! Er habe dies nicht fassen können und musste immer wieder nach Quickborn fahren. Käthe sagte dann weiter, sie hätten sich am nächsten Tag zum Essen verabredet. Ich gab ihr meine Telefonnummer, damit sie mich auf dem Laufenden halten könnte, wenn es etwas Neues geben würde.

Einen Tag später trafen wir uns wieder zum Kaffeetrinken und Käthe war ziemlich aufgeregt. “Wir waren Fisch essen in der Kieler Straße, und der Mann hatte Bilder von seiner verstorbenen Frau mitgebracht”, erzählte sie. “Das da auf den Fotos, die er mir zeigte, das war doch ich, oder? Wie aus dem Gesicht geschnitten!” Dann stellte sich heraus, dass sie die gleichen Vorlieben für Fisch hätte, sogar die gleichen Musikinterpreten mochte und vieles mehr. Und sie war nicht nur im gleichen Jahr geboren, sondern auch am gleichen Tag! Und zwar in Deutsch Krone! Unglaublich. Käthe hatte noch eine Zwillingsschwester, die sie befragte “…aber die wüsste auch nicht mehr”, meinte sie. “Ich muss heute noch unbedingt zu meiner Mutter”, erklärte Käthe, “die wohnt hier in Altenheim Klingenberg. Ich ruf dich dann wieder an!”.

Abends erzählte sie mir dann am Telefon, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte, und was ihre Mutter nie vorher erzählt hätte. Bisher ging die Familie davon aus, sie hätte zweieiige Zwillinge geboren, beides Mädchen, eines mit dunkleren Augen und dunklem Haar und das andere mit helleren Augen und hellem Haar. Angeblich hätte eine jüdische Ärztin die Kinder zur Welt gebracht. Die Mutter hätte die Ärztin in ihrem Haus versteckt, erzählte sie.

Jetzt war klar, dass damals noch ein drittes Kind geboren wurde, dass es also eine Drillingsgeburt war. Langsam fügte sich ein Bild zusammen und Käthe glaubte, endlich die Wahrheit über ihre Geburt, über die Geburt der Drillinge zu kennen, denn nun hatte sie auch die Lebensgeschichte der dritten, ihrer echten Zwillingsschwester von dem Mann aus Norderstedt erfahren.

Nach der Darstellung ihrer Mutter soll es so gewesen sein:

Die Russen waren schon kurz vor Deutsch-Krone, als sie die drei Mädchen zur Welt brachte, zwei eineiige Zwillinge und ein drittes Kind, auch ein Mädchen. Die eineiigen Mädchen wären sehr geschwächt gewesen. Käthes Zwillingsschwester wäre es dann jedoch so schlecht ergangen, dass die Ärztin dringend riet, sie in das nahe gelegene Krankenhaus zu bringen. Die Russen flogen inzwischen auch Bombenangriffe auf die frontnahen Städte, zu denen jetzt auch Deutsch Krone gehörte. Das völlig überfüllte Krankenhaus sei ebenfalls bombardiert worden und es hätte viele Tote gegeben.

Wie überlebte nun ihre Zwillingsschwester? Die Mutter erklärte das so: Kurz nach der Bombardierung sei eine Frau in das zerstörte Krankenhaus gekommen, um ihr eigenes Baby zu suchen, das wahrscheinlich am gleichen Tag wie Käthe und ihre Schwestern geboren wurde. In der Säuglingsstation hätten die Babys aus Platzmangel dicht gedrängt neben einander gelegen. Die Frau hätte wahrscheinlich wegen der gleichen Daten oder der Ähnlichkeit das einzige überlebende Kind, offenbar Käthes Schwester, an sich genommen, in der Gewissheit, es wäre ihr Kind, das als einziges den Bombenangriff überlebt hätte. Ihr eigenes Kind war zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich unter den Toten. Käthes Mutter sagte, sie hätte geglaubt, dass nun ihr Baby tot sei. Dann flüchtete sie mit den beiden gesunden Kindern aus Deutsch-Krone, um den Russen nicht in die Hände zu fallen.

Die Familie kam schließlich nach Schleswig Holstein, und zwar nach Barg, das liegt in der Nähe von Bargfeld-Stegen, nördlich von Ahrensburg. Nachdem Käthe längst verheiratet war, zog sie 1997 mit ihrem Mann nach Quickborn, wahrscheinlich auch, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein.

Käthe wollte nun unbedingt Nachforschungen anstellen, um etwas über ihren Vater zu erfahren, doch sie biss überall auf Granit. Wo immer sie sich auch hinwandte, sie kam nicht weiter, ihre Gesprächspartner waren kurz angebunden. Schließlich erfuhr sie, dass ihr Vater als Parteigenosse in Deutsch-Krone angeblich viel zu sagen gehabt hätte. Käthe hatte mir nie erzählt, was aus ihrem Vater wurde.

Was Käthe bis dahin erfahren hatte, war aber doch nicht die ganze Wahrheit. Ihre Mutter lag in Sterben. Ein paar Tage vor ihrem Tod im Quickborner Altenheim Klingenberg erzählte die Mutter Käthe wie es wirklich war. Es war alles ganz anders, denn sie wollte Käthe nicht die Wahrheit sagen weil sie doch immer so empfindlich sei. Die Sache mit dem Krankenhaus stimmte nicht, ihr Vater hatte ihre Zwillingsschwester kurz vor der Flucht einfach weggegeben. Töchter hatten für ihn sowieso keinen Wert und so kam es, dass ein befreundetes kinderloses Ehepaar das Kind mitnahm. Man hatte sich dann endgültig aus den Augen verloren. 

Ohne von einander zu wissen, kam Käthes eineiige Zwillingsschwester – der dritte Drilling – im Jahre 1958 nach Norderstedt. Sie sind sich nie begegnet. Keiner hatte geahnt, dass all die Jahre eine Schwester im Nachbarort wohnte. Käthes Zwillingsschwester verstarb im Jahre 2003 in Norderstedt und hinterließ einen trauernden Mann, der ungefähr ein Jahr später in Quickborn seinen Augen nicht trauen wollte, weil er glaubte, dort seine verstorbene Frau gesehen zu haben.

Längere Zeit hörte ich nichts mehr von Käthe. Von anderen, die auch ihre Geschichte kannten, erfuhr ich, dass wieder dieser Mann aus Norderstedt aufgetaucht wäre und Käthe erneut beobachtete. Konnte er den Tod seiner Frau nicht verwinden?

Das letzte, was ich von Käthe hörte war, dass sie im Jahre 2005 aus Quickborn ‘unbekannt verzogen’ war.

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