Integration durch Erotik

I

Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutsche Wirtsbevölkerung machte anfangs große Schwierigkeiten wegen der Wohnraumzwangsbewirtschaftung, d.h. der Beschlagnahme aller Flächen über 3,5 qm je Person. Man stelle sich eine vierköpfige Familie auf 14 Quadratmetern vor – jede Wohnstube hat heute über das Doppelte. Unzufriedenheit gab es auf beiden Seiten oft mehr als genug. Versöhnlich machte dagegen die wiederkehrende Lebenslust, vor allem die Geschlechterbegegnung – ganz abgesehen vom Anrecht auf Wohnraum durch Eheschließung -, flammte doch die Liebe bei lange getrennten und jetzt wieder zusammengeführten Paaren neu auf oder bei solchen, die noch nicht in den Hafen der Ehe geschippert waren. Inmitten aller materiellen Not wuchsen Lebenswille, -mut und -freude, begann man wieder zu lieben und zu lachen, zu tanzen und zu turteln. Mancher Dorfgasthof lud dreimal wöchentlich zum Tanz. Einer meiner Arbeitskollegen, ein Sudetendeutscher, entrüstete sich später darüber, dass er viele seiner Landsleute im Westen beim fröhlichen Zusammensein auf dem Dorfschwof antraf. Diese Tanzvergnügen schufen neue Begegnungen, deren Ergebnis manchmal eine Marianne war, in der seligen Erinnerung an einen Schmusetanz zu den Klängen des damaligen Schlagers „Mariandl, -andl, -andl aus dem Wachauerlandl, -landl”. Damals, junger Mensch in der Vorpubertät, erstaunte mich, dass so manche Pärchen sich hinter die Büsche schlugen – nein, keine jungen Leute, sondern gereifte – wie man heute sagen würde – Senioren, er meist mit Hut, ältere Herrschaften, die ihre neue Freiheit mit heftigem Kosen, Schmusen und Knutschen besiegelten. Für uns Zehnjährige bedeutete das eine ungewöhnliche Erfahrung, da die Erwachsenen sonst ihre Sexualität beflissen verbargen und tabuisierten. Der Quickborner Bürgermeister hörte erst 1951 damit auf, in seine Jahresberichte statistische Werte über geschlossene “Mischehen” einfließen zu lassen und meinte, das sei inzwischen überflüssig, da die Integration so gut wie abgeschlossen sei.

 

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

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