Freundinnen seit etwa 70 Jahren…

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Ich weiß nicht genau wie alt ich war, aber es war noch vor unserer Schulzeit, als Ursel und ich immer zusammen spielten. Wir wohnten auf einem kleinen Hügel, sie im Tal, in einer Kate. Bei uns war das Haus immer voll, ich hatte noch 6 ältere Geschwister und jeder versuchte, mich zu erziehen.

Ursel war ein Einzelkind, deshalb spielte ich lieber bei ihr. Ihr Vater war im Krieg, die Mutter alleinerziehend und sehr geschickt. Sie baute uns Höhlen, Schaukeln und eine Turnstange. Sie konnte einfach alles, ob Radflicken oder Lampen anbringen. Trotzdem war die Familie in unserem Ort nicht so beliebt, fast alle Familien waren evangelisch, nur sie waren katholisch und kamen aus dem Osten. Die Oma, die am Ende der Kate wohnte, konnte nicht einmal richtig deutsch sprechen. Mich störte es nicht und meiner Familie auch nicht, die waren vielleicht froh, wenn ich eine Weile aus dem Haus war.

Wenn mich Ursels Mutter zu sich holte, um mit Ursel zu spielen, kam sie in Gummistiefeln, hatte eine Herrenjacke an und eine komische Mütze auf, das war schon auffallend, denn alle Frauen bei uns gingen nur mit Kopftüchern. Sie nahm mich huckepack, trotzte Regen, Eis und Schnee und marschierte mit mir ins Tal, wo Ursel schon am Fenster stand und auf mich wartete. So konnte die Mutter getrost ihrer Arbeit nachgehen, oder einkaufen fahren, aber mit gehobenen Finger, denn sie kannte ihre Kinder. Wenn wir dann alleine waren, machten wir oft Dummheiten, mal banden wir die Ziegen los, die zielsicher den Hang hochkletterten, um an die Himbeersträucher zu kommen. Alleine bekamen wir sie nicht mehr nach Hause. Das Donnerwetter folgte so gleich.

Ein anderes Mal kletterten wir aus dem Fenster, wenn die Mutter uns einsperrte, um Besorgungen zu machen. Wir ließen die Fenster im Winter sperrangelweit offen. Ursel bekam dann eine Tracht Prügel und ich wurde nach Hause gejagt. Doch lange dauerte der Hausarrest nicht. Ich stand oben und guckte traurig ins Tal, Ursel stand unten am Fenster und heulte erbärmlich. Das konnte auch die strengste Mutter nicht lange aushalten und die beiden Freundinnen durften wieder zusammen spielen.

Wenn wir wirklich mal Streit miteinander hatten, war ich die Schwächste und bekam das meiste ab. Sie musste mich aber auch erst mal kriegen, ich konnte sehr schnell laufen.

Ursel kam auch oft zu uns. Meine Mutter war nicht so pingelig, sie hatte wenig Zeit, so gab es keine Verbote, was auch wir immer anstellten. Zum Essen ging ich immer gerne zu Ursel. Es gab oft Pudding oder Eierkuchen, das kam bei uns nur sonntags auf den Tisch. Dann wurden wir zusammen eingeschult und gingen vier Jahre gemeinsam in die 3 km entfernte Schule. Im März 1945 begann unsere 6 wöchentliche Flucht, auch da waren wir täglich zusammen, obwohl uns zehn Wagen von einander trennten. In der neuen Heimat angekommen, waren wir das erste Mal getrennt, jeder wohnte an einem anderen Ort. Nach zwei Jahren zogen wir in den gleichen Ort und gingen wieder in die gleiche Schule. Wir waren wieder unzertrennlich.

Als wir so 16 Jahre alt waren, gingen wir gemeinsam zum Tanzen. Ich übernachtete dann bei ihr und es gab viel zu erzählen. Es hätte so schön sein können, wenn nicht die Mutter da gewesen wäre. Das Gekicher an der Straßenecke mit anderen Jugendlichen nahm dann ein jähes Ende, weil ihre Mutter als Rammbock vor uns stand und uns ins Haus beorderte. Sie hatte sicher schon lange am Fenster gestanden. Das war Ursel sehr unangenehm.

Als ich dann nach Ellerau zog, konnte ich nur einmal im Jahr meine Eltern besuchen. Doch jedes Mal habe ich auch Ursel besucht. Sie war bei meiner Hochzeit und ich bei ihrer. Dann war erst mal Funkstille. Außer Weihnachtsbriefe lief nichts. Es hatte jeder mit sich zu tun, es kamen Kinder, es wurde ein Haus gebaut.

Beim zwanzigjährigen Schultreffen waren wieder die freundschaftlichen Gefühle da. Wir schreiben uns seitdem Briefe und wenn ich in der Gegend bin, besuche ich sie immer noch. Anfang Juni war es dann wieder soweit. Wir haben viel von früher erzählt.

Leider ist sie seit 2 Monaten Witwe und der nächste Besuch wird sehr schwer für uns sein.

 aufgeschrieben am 20.09.2010

Über den Autor

Edith Kollecker

Jahrgang 1934
Facharbeiterin

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