Erinnerungen an einen Winter in Pommern!

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Heute vermisse ich den Schnee nicht, ich kann sehr gut damit leben, dass wir hier in Schleswig-Holstein einen milden Winter haben. Vor ca. 65 Jahren war das in meiner Heimat aber ganz anders. Daran kann ich mich noch gut erinnern.

Ende November kam meine Mutter ins Zimmer, um uns, meinen Bruder und mich, zu wecken. Wir sollten uns rechtzeitig für den Schulweg fertig machen. Sie sagte: „Schaut mal aus dem Fenster.“ Flugs waren wir da, hauchten ein kleines Loch in die angefrorene Fensterscheibe, und was sahen wir dort? Es hatte geschneit. Es hatte wohl schon die ganze Nacht geschneit, denn der ganze Hof war weiß und der Gartenzaun hatte weiße Mützen auf. So schnell wir konnten machten wir uns für den Schulweg fertig.

Meine Mutter mummelte mich richtig ein. Schnürschuhe, dicke selbst gestrickte Fausthandschuhe, die mit einem langen Band aus den Ärmeln der Winterjacke ragten, damit wir sie nicht verlieren. Jetzt kamen noch die Wollmütze und der Muff, ich konnte mich kaum bewegen.

Auf dem Hinweg hatten wir keine Zeit, uns an der weißen Pracht zu erfreuen. Leider waren die ersten Begegnungen mit dem Schnee während der Pause auch nicht so erfreulich. Die älteren Kinder veranstalteten eine Schneeball-schlacht – und immer auf die Kleinen. Der Lehrer musste eingreifen, wenn sie es zu doll trieben.

Der Heimweg war auch nicht besser und sehr lang. Sie hatten ihren Spaß daran, unser Gesicht mit Schnee einzureiben, oder Schnee in unseren Kragen zu stecken. Weinend kam ich dann zu Hause an. Mama musste sich dann mein Gebrüll anhören, während mein Bruder hinter ihr Faxen machte und mich eine Petze nannte, er war nämlich einer der frechen Jungen. Meine Freundin Ursel und ich machten einen weiten Bogen um die Bagage.

Nach einiger Zeit ließ das Interesse an uns von selbst nach, denn jetzt fing der Spaß erst richtig an. Alle Leiterwagen vom Gut, auf dem wir seit meinen ersten Erinnerungen lebten, waren auf Kufen befestigt worden und wir banden unsere Schlitten daran fest. Der erste musste ein langes Seil haben, damit ihn der Kutscher mit seiner Peitsche nicht erreichen konnte. Verboten war es allemal, doch die jüngeren Männer übersahen uns einfach. Sie freuten sich, wenn einer in der Kurve runterfiel und hinterher laufen musste. Viel Spaß machte uns das Rodeln am Schlossteich.

Wir hatten nur einen Schlitten und den beanspruchte mein Bruder. Ich musste dann auf Ursel zurückgreifen, die einen größeren besaß, darauf hatten wir dann beide Platz. Was war das für eine Freude, wenn wir den Berg herunter sausten und über den halben See schlitterten. Leider mussten wir ihn wieder zu Fuß hochklettern.

Manchmal war eine Seite des Sees abgesperrt. Dort wurden große Blöcke Eis rausgesägt und in den Eiskeller gebracht, wo sie bis zum Sommer lagerten. Wenn erstmal die leidigen Schul-arbeiten erledigt waren, ging es raus zum Wintersport.

Handschuhe lagen auf der  Ofenbank immer parat, noch einen Bratapfel aus der Ofenröhre und Mama sah uns den ganzen Nachmittag nicht wieder. Es schneite tagelang, es stürmte und wehte hohe Schneewehen auf, die durch den Dauerfrost so fest waren, dass wir uns darunter Höhlen bauen konnten.

Im Winter war auch die Zeit, in der geschlachtet wurde. Wenn wir aus der Schule kamen, hing das Schwein schon gebrüht, geschruppt, an einer Leiter, die an unserer Hauswand lehnte. Wir schauten zu, wenn der Schlachter dem Schwein den Bauch aufschnitt und nahmen den bestialischen Gestank in Kauf, wenn er die Därme reinigte. Später wurde darin der Wurstteig gefüllt.

Es roch nicht nur tagelang nach gekochtem Fleisch und Fett, es klebte auch an allen Türklinken. Mama hatte so ihre Taktik, eins nach dem anderen und kurze Zeit später hingen die Würste fein säuberlich über einem Besenstiel fertig zum Räuchern. Dann begann das Attentat auf die Gänse. Einen Tag vorher wurden sie auf einen kleinen See getrieben, damit sie sich säuberten. Sie kamen in den mit frischem Stroh ausgelegten Stall und hungerten dem nächsten Tag entgegen. Es waren ca. 35 Gänse, die geschlachtet, gerupft, gewaschen und ausgenom-men werden mussten. Die Federn wurden in Säcken zum Trocknen auf den Boden gehängt.

Die Zeit verging, wir freuten uns auf das nahende Weihnachts-fest und es schneite immer noch. Wir marschierten in Eintracht mit den großen Kindern, die uns jetzt in Ruhe ließen, zum Schloss, um ein Weihnachtsmärchen einzustudieren, das dann am Sonntag vor Weihnachten aufgeführt wurde. In dieser Zeit wurden auch für unseren 9-Personen Haushalt große Mengen Plätzchen gebacken. Mama schimpfte mit uns, wenn das Inte-resse am Ausstechen der Sternchen nachgelassen hatte. Was hatten wir sie vorher genervt, endlich damit anzufangen, weil wir helfen wollten, jetzt wollten wir aber lieber in den Schnee.

Dann kam das langersehnte Weihnachtsfest, mit geschmücktem Weihnachtsbaum Geschenken und dem Weihnachtsbraten.

Zwischen den Jahren war auf dem Gut für meine Schwestern wenig zu tun, und sie gingen dann mit uns rodeln. Dann wurde Silvester gefeiert. Wir Kinder gingen verkleidet von Haus zu Haus, um Süßigkeiten zu bekom-men. Mama konnte zum Jahres-wechsel mit dem Krapfenbacken nicht nachkommen, so schnell hatten wir sie aufgegessen. Es ging alles viel zu schnell vorbei

Der Januar war sehr stürmisch und früh dunkel. Obwohl Mama sagte: „Es ist schon einen Hahnenschrei länger hell“. Meine Schwestern kamen schon früh von der Arbeit nach Hause. Sie beschäftigten sich dann mit Plätten, Stopfen und Nähen. Die Federn, die auf dem Boden hingen, mussten geschlissen werden, damit war dann ein neues Bett gesichert. Mama hatte im Winter auch mehr Zeit und beschäftigte sich mehr mit der Essenszubereitung. Wir waren Topfgucker der üblen Sorte. Die erste Frage war, was gibt’s zu Essen? Gab es aber Wruken oder Erbsensuppe, wusste ich im voraus, dass ich  keinen Appetit hatte. Mama legte ihre Hand an meine Stirn und sagte: „Du wirst doch nichts ausbrüten“? Sie machte sich immer Sorgen um ihr Nesthäkchen. Etwas später stand das arme appetitlose Kind am Brotspind und schmierte sich eine Stulle mit Butter und ganz dick Zucker drauf.

Auch der Februar war kalt und es lag immer noch viel Schnee. Es war schon etwas länger hell, doch große Lust zum Rodeln hatten wir nicht mehr. Der März brachte uns auf den Ge-schmack des Vorfrühlings.

Wir jammerten Mama die Ohren voll, schon mal bei Sonnen-schein Kniestrümpfe zu tragen. Wie immer gab sie nach. Doch das Wetter schlug um, es wurde wieder kalt, was wir nicht wahrhaben wollten. Die Rache folgte gleich, ich hatte mir eine starke Erkältung eingehandelt, der Mama mit gekochter Zwiebel, oder gekochten und zerdrückten Pellkartoffeln zu Leibe rückte, dann ab ins Bett und tüchtig schwitzen. An einen Arzt kann ich mich nicht erinnern. Das arme kranke Kind wurde mit Hühnerbrühe und anderen leckeren Eierspeisen wieder aufgepäppelt. Mir ging es gut, immer kam eine meiner Schwestern rein, um mir Gesellschaft zu leisten. Nur der Leber-tran, den ich schlucken musste, machte alles zunichte. Schon der Anblick der gelblich aussehenden Flüssigkeit im Löffel, der mir verdächtig näher kam, verursachte bei mir Übelkeit.

Gab Mama immer bei mir nach, so stellte sie sich hierbei stur. Ja sie verbiss sich direkt darin und war der Meinung, dass nur dieses mir helfen würde, um wieder auf die Füße zu kommen. Mit der Meinung stand sie allerdings nicht alleine da. Später gab es in der Schule auch Lebertran nur für die schwächeren Kinder. Der Lehrer blieb so lange bei uns stehen, bis wir den Löffel Lebertran tatsächlich runtergeschluckt hatten. Wie habe ich meine Freundin beneidet, die etwas pummelig war.

Ob mit oder ohne Lebertran, ich wurde wieder gesund und niemand nahm mehr Notiz von mir. Auch der längste Winter geht mal zu Ende. Die Sonne schien, es hingen Eiszapfen am Dach, die wir gerne gelutscht haben. Mama schimpfte mit uns, und sagte: „Ihr werdet noch Läuse in den Bauch kriegen, kommt mir nicht nach Hause und jammert, ihr hättet Bauchschmerzen“.

Die Äpfel mussten aus der Bratröhre verschwinden, um einem Schuhkarton mit kleinen, niedlichen, viel zu früh geschlüpften Küken Platz zu machen. Unser Hund (Prinz) scharwenzelte immer davor und leckte sich genüsslich das Maul. Wir ließen ihn auch mal daran schnuppern. Die Zuchtgänse saßen schon lange auf ihren Eiern und warteten geduldig, dass sich endlich Nachwuchs einstellte, es piepte schon verdächtig.

Wenn die ersten Gösselchen geschlüpft waren, ließen sie sich nicht mehr halten, der Rest wurde mit einer Wärmflasche im Bett ausgebrütet. Die Sonne stieg höher und höher, es wurde warm und unsere verhassten Wollstrümpfe konnten eingemottet werden.

Der Sommer war endlich da!

 

Über den Autor

Edith Kollecker

Jahrgang 1934
Facharbeiterin

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