Ein Fall von Schulversagen

E

Als die Pisa-Schockwelle durchs Land ging und der öffentliche Diskurs die sattsam debattierten Auffassungen der Erben von 1968 einerseits und der Traditionalisten andererseits wieder aufleben ließ – Fördern oder Fordern, Kuschelpädagogik oder Lerndisziplin -, kam es mir wieder in den Sinn, dass auch ich selbst einmal in der Schule kläglich versagt hatte.

Ort: Volksschule, Grundstufe, 4. Klasse. Zeit: Winter 1944/45. Anlass: Eine Lehrprobe oder -prüfung, vielleicht auch eine experimentelle Seminar-Vorführung im Fach Mathematik. Jedenfalls suchten uns viele hohe Herrschaften heim, der Schulrat mit einem Rattenschwanz von Junglehrern oder Seminaristen, so ein Aufmarsch wie bei der Chefvisite im Krankenhaus. Wir Schüler bekamen Stäbchen oder Klötzchen verschiedener Farbe, Größe und Form in die Hand und sollten sie, soweit ich mich noch erinnern kann, nach irgendeinem Konzept ordnen.

Abstraktes Rechnen oder seine konkrete Anwendung auf Waren oder Gegenstände aller Art mochte ich gern, wohl weil ich mütterlicherseits aus einer Kaufmannsfamilie stamme. Aber diese Art der Kindergarten-pädagogik versetzte meine Motivation auf den Null- oder gar einen Minuspunkt. Was sollte das mit einem solchen Kinderkram bloß bedeuten? Ich wurde aber erlöst, indem eine neben mir sitzende Dame mittleren Alters vom Typ Seminarleiterin sich statt meiner mit den Klötzchen aufgabenlösend betätigte. Sie tat das mit einer angenehm mütterlich-warmen pädagogischen Zuwendung und duftete dabei so schön nach Lavendel.

Ich hatte zwar versagt, bin aber, soweit ich weiß, nicht rot geworden dabei. Diese Lehrprüfung war für die Katz, da sie mich nichts Brauch-bares lehrte. Dergleichen Klötzchenrechnerei benötigte ich nicht, wenn ich die Salden in den Geschäftsbüchern meiner Mutter hinauf- und hinunterrechnete. Der Vollständigkeit halber (und ganz ohne mich sonderlich rühmen zu wollen) muss ich hinzufügen, dass ich in meinem Abiturjahrgang die einzige Eins in Mathe hingelegt habe, aber das war ja auch durch eine Leistungsanforderung motiviert.

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

Neueste Beiträge

Kategorien