Die Wiedervereinigung 1989

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Die Wiedervereinigung 1989,
wie ich sie erlebte.

Ich habe bei dem Schlachter Peter B., mit dem ich vor Jahren bei Erwin Piltz in Ellerau gelernt habe, wöchentlich 3 Tage auf Wochenmärkten in Hamburg gearbeitet.

Eines Tages erzählte er, dass ein bekannter Fischhändler aus Norderstedt auf dem Wochenmarkt „Glatter Aal“ in Rostock steht und dass es sich offenbar lohnt, dort Ware zu verkaufen. Peter, mein Chef rief bei der Stadtverwaltung in Rostock an und bekam die Zusage, dass er auf dem Marktplatz „Glatter Aal“ Fleisch verkaufen kön­ne. Er wollte eigentlich nur donnerstags und freitags bleiben, doch auf dem „Glatten Aal“ war die ganze Woche über Markt. Der lag übrigens ganz zentral nur wenige Schritte von der Kröpeliner Straße, der bekannten Rostocker Fußgängerzone, ent­fernt, zu der die DDR-Bürger diskret Boulevard sagten.

Am nächsten Donnerstag fuhr das Ehepaar Peter und Helga B. mit einem weiteren Schlachter morgens um 2:00 Uhr nach Rostock. Der kleine Kühllaster war voller Satten mit Fleisch (Schwein, Rind, Lamm und Kalb) und Wurst, auch im Kühlanhän-ger waren Satten mit Wurst. Sie waren um 5:00 Uhr auf dem Markt. Der Marktmeis-ter wies ihnen einen Platz zu. Als sie richtig standen, machte Helga als erstes die Klappen auf, nahm die Ablage nach vorn runter und fing an, die Wurstseite ein-zuräumen. Der Schlachtergeselle räumte das Fleisch ein und dann kamen schon die ersten Neugierigen, nämlich die Marktbeschicker! Soviel Fleisch und Wurst hatten sie offenbar noch nie gesehen. Helga verteilte Wurstscheiben zum Probieren – der Kontakt war hergestellt! Aber die anderen Marktbeschicker mussten ihre Stände oder Verkaufswagen auch fertigmachen und ordentlich einräumen. Die meisten lobten Pe-ter für die gutschmeckende Wurst, aber dann machte er die Klappen wieder runter. Helga machte den Fleischsalat und die Remoulade selber, die anderen Salate kauften sie von der Firma Feinkost-Popp, Kaltenkirchen.

Um 6:30 Uhr war der Tresen fertig und sie wollte frühstücken, doch als sie nach draußen kam, wartete schon eine Schlange Kunden vor dem Wagen. Peter machte die Klappen auf und sie mussten auf das Frühstück verzichten – die Kunden mussten be-dient werden! Zwischendurch tranken die dreimal rasch einen Kaffee. Um die Mit-tagszeit ging jeder kurz mal raus, aß irgendwo ein Würstchen und trank irgendetwas.

Der Kundenstrom wurde nicht weniger. Sie hatten einen so tollen Zulauf, dass sie am Abend fast keine Ware mehr hatten und mussten nach Hause fahren. Peter sprach zu-vor mit dem Marktmeister und erklärte, dass er gerne von Donnerstag bis Sonnabend kommen würde. Er bekam von ihm die Zusage, dass er immer den zugewiesenen Platz haben könne. Wie dieser erste Tag verlief, erzählten mir beide einmal beim Kaffeetrinken.

Am Montag rief Helga bei mir an und fragte, ob ich mal zu ihnen kommen könne, es ginge um Arbeit auf dem Wochenmarkt in Rostock! Ich kannte Rostock schon länger, denn Kurts Verwandte wohnten dort und wir hatten schon lange Kontakt zu ihnen, waren auch schon einige Male zu Besuch dort.

Ich wurde schnell mit Peter über das Gehalt einig und gab ihm die Zusage mitzufah­ren. Wir würden dann von Donnerstag bis Sonnabend dortbleiben. Übernachten könnten wir im Hotel „Sonne“, das lag in der Nähe des Marktes, gegenüber dem alt­ehrwürdigen Rathaus Rostock. Ich nahm eine Reisetasche mit Wäsche zum Wechseln mit, denn nach einem Tag im Hänger stinkt die Kleidung nach Fleisch und Rauch! In einer anderen Tasche hatte ich eine Kanne mit Kaffee, eine mit Tee und eine Selters­flasche. Am Donnerstag um 2:00 Uhr holten sie mich von zu Hause ab. Helga schlief bald wieder ein, aber ich war aufgeregt und gespannt, wie es jetzt wohl am Grenz­übergang in Schlutup aussehen würde. Immer wenn wir mit der ganzen Familie unse­re Verwandten in Rostock besuchten, hatte ich beim Überfahren der Grenzanlagen wegen der DDR-Grenzsoldaten die artigsten Kinder. Und jetzt? Nichts! Kein Soldat, kein blendendes Licht, nur leere Gebäude. Unheimlich!

Nun ging es über Wismar auf der Fernstraße 105 nach Rostock.

Helga war nach Überqueren der ehemaligen Deutsch/Deutschen Grenze wach gewor­den. Bis Rostock leerten wir die Kaffee- und Teekanne und auch das Selterswasser, dann waren wir am Ziel. Der Verkaufshänger wurde richtig hingestellt, Strom für Licht und Kühlung wurde mit der Kabeltrommel geholt, die Klappen hoch und die Ablage runter! Nun kam die „gemütliche“ Viertelstunde. Kaffee wurde aufgesetzt, Brötchen geholt und mit Wurst und Käse belegt. Wir beide, Helga und ich aßen gerne Käse, deshalb hatte ich welchen von zuhause mitgebracht. Aber es gab auf dem Markt einen Käsehändler, deshalb entfiel beim nächsten Mal das Mitbringen von Käse. Hel­ga und Peter packten den Tresen und ich schnitt von jeder Wurst ca. 10 cm per Hand in Scheiben ab. Helga legte die Wurst dekorativ in den Tresen, denn das Auge isst mit! Um ca. 6:30 Uhr waren wir fertig. Wenn ein Kunde sehr früh kam, wurde er bedient. Wir hofften, dass wir jetzt in Ruhe frühstücken könnten, aber es kamen Kunden und bald bildete sich eine lange Schlange, also „Frühstück ade!“

Es war unglaublich: bedienen, Wurst schneiden, mal heimlich Kaffeetrinken – die Schlange der Kunden nahm nicht ab! Das ging so bis etwa 14:00 Uhr. Nun konnte je­der mal schnell nach draußen, etwas essen, trinken und auf die Toi gehen – und wei­ter ging’s! Gegen 16:00 Uhr konnte Peter nicht mehr arbeiten, er war fix und fertig und ging aus dem Hänger. Jetzt mussten Helga und ich die Kunden bedienen. Gegen 17:30 Uhr füllte Peter einen 25 Liter-Topf mit Wasser. Wir hatten einen großen Tauchsieder mit und natürlich auch „Spüli“. Um 18:00 Uhr war dann Feierabend – Feierabend aber nicht mit der Arbeit. Der Verkaufstresen wurde ganz leergeräumt. Die Ware kam in den Satten in den Kühllaster. Den Strom für die Kühlanlage bekamen wir aus dem Kraftstromkasten. Peter hatte dafür eine große und eine kleine Kabeltrommel und einige Kabel mit verschiedenen Steckern, weil die Stroman-schlussdosen im Osten nicht mit unseren übereinstimmten.

Nun ging es ans Saubermachen. Das ganze Handwerkszeug, Messer, Beil, Säge, Teller, Schüsseln und Gabeln wurden abgewaschen, der Tresen sauber gewischt. Der Hauklotz kam nach draußen und wurde mit einer Stahlbürste bearbeitet, damit er wieder hell wurde. Die Scheiben wurden geputzt, als letztes wurde der Fußboden gescheuert und trocken gefeudelt. Um 20:00 Uhr waren wir fertig Dann gingen wir noch essen. So um 21:30 Uhr waren wir dann im Hotel. Nach dem Duschen ging es dann gleich ins Bett, denn um 4:30 Uhr war die Nacht zu Ende!

Auch wenn wir schwer und lange arbeiten mussten, hat die Arbeit Spaß gemacht.

Wir hatten bald viele Stammkunden. Einige wollten den Aufschnitt dünn geschnitten, auch unseren Holsteiner Katenschinken! Wir aßen den Schinken auf Brot normal geschnitten, doch zum Spargel muss er ca. 5 mm dick sein. Die Wünsche unserer Kunden erfüllten wir aber gerne!    

Da wir einen so großen Zulauf hatten, stellte Peter vier Verkäuferinnen ein. Jetzt war er die ganze Woche über auf dem Markt. Allerdings blieb er ab 1991 in Norderstedt, denn sein Geselle spielte sich als Chef auf. Nun fuhren Helga und ich allein nach Ro­stock. Peter hatte durch Zufall eine Einraum-Wohnung angemietet.

1992 lernte Helga Otto, einen ehemaligen Polizisten kennen. Otto kam am Montag und am Mittwoch, um neue Ware aus Norderstedt zu holen und brachte das Geld mit. Er nahm mich am Mittwoch dann mit nach Rostock. Wir führten unterwegs lange Ge­spräche. Er hat an den Staat geglaubt, nie Westfernsehen geschaut. Nach der Wende fuhr er mit seiner Frau nach Lübeck. Sie gingen durch die Straßen: diese Lichter, die­se Geschäfte, wo man alles kaufen und gleich mitnehmen konnte! Schweigend fuhren sie nach Hause. Alles, was ihnen die Regierung erzählt hatte waren Lügen! Lügen! Otto und seine Frau saßen in ihrem Wohnzimmer und weinten. Er hatte lange ge­braucht, um damit umzugehen. Am Freitag fuhr ich mit dem Zug nach Hause. Mein Mann Kurt holte mich vom Bahnhof Altona ab, denn dort bekam er immer einen Parkplatz.

Die erste Fahrt nach Hause werde ich nie vergessen. Ich musste das Geld mitnehmen, einen größeren Betrag, alles Papiergeld. Da ich nach Rauch und Fleisch roch, zog ich mich um – dann der Einfall! Das Päckchen Papiergeld packte ich in die Unterhose, Hüftgürtel drüber und angezogen und ich war beruhigt! Am Hauptbahnhof stieg ich aus und wollte nach Altona fahren, aber es ging keine Bahn mehr bis dorthin – also mit dem Taxi fahren. Ich bekam auch gleich eines! Als wir unterwegs waren, fiel mir ein, dass auch meine Scheine im „Versteck“ waren! Was nun? Also Reißverschluss der Hose runter, Hüftgürtel etwas nach oben, da war das Paket! Ich fummelte so lan­ge, bis ich Geldscheine hatte, es hatte geknistert. Ob der Taxifahrer ein ungutes Ge­fühl hatte? Ich brachte meine Kleidung in Ordnung und wir waren bald in Altona. Der Fahrer sagte mir den Fahrpreis, ich bat um eine Quittung, gab ihm das Geld und einen Obolus. Kurt hatte schon vor dem Altonaer Bahnhof auf mich gewartet.

Wir hatten in den ersten Jahren ein tolles Verhältnis mit unseren Kunden, aber dann hieß es immer öfters „Wessis, nein danke!“ Ostern 1997 hörten Bahdes in Rostock auf. Ich habe heute noch Kontakt mit Otto und der Verkäuferin Renate Schmidt, von uns allen als „Schmittel“ angesprochen.

aufgeschrieben im Herbst 2015

Über den Autor

Renate Wagner

Jahrgang 1941
Verkäuferin

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