Die Macht der Gewohnheit

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Es muss im Februar 1961 gewesen sein. Vor einem Monat war ich nach Hamburg gekommen. Man hatte mir ein spärlich möbliertes Zimmer bei einer alten Dame in Bahrenfeld vermittelt. Die Vermieterin sah ich nur einmal im Monat bei Übergabe der Zimmermiete. Sie kränkelte, und ich machte mir Sorgen, dass ihr etwas passieren könne. Das war nicht ganz abwegig, denn  in der ganzen Wohnung roch es unangenehm nach Medikamenten. Ich war daher froh, wenn ich sie bei der Mietübergabe noch lebend sah.

Ich fuhr damals mit der Straßenbahn in die Firma. Bahrenfeld-Trabrennbahn war Endstation der Linie 11. Da stieg ich jeden Morgen ein. Ich fuhr dann bis zum Karl-Muck-Platz. Ich hatte mich zwischenzeitlich mit Arbeitskollegen angefreundet, mit denen ich gelegentlich die Abende verbrachte. Oftmals erwischte ich noch die letzte Bahn Richtung Bahrenfeld. Gestern war es wieder Mal spät geworden. Ich wachte am Morgen auf. Mein kleiner Reisewecker zeigte auf halb neun. Ich hatte verschlafen. Ich sprang aus dem Bett, gönnte mir eine Katzenwäsche mit Blitzrasur und eilte zur Haltestelle. Die Linie 11 stand abfahrtbereit, so als hätte sie auf mich gewartet. Ich stieg ein. Die sonst volle Bahn war halbleer. Da ich noch nie so spät am Morgen mit der Bahn gefahren war, hielt ich das für normal. Eine halbe Stunde später erreichte ich mein Fahrziel. Ich eilte zur Firma. Die Pförtnerloge war besetzt. Der Pförtner sprach mich an und fragte mich, was ich am Sonntag in der Firma zu suchen hätte. Da wurde mir klar, dass mich die Macht der Gewohnheit aus dem Bett getrieben hatte, machte sofort kehrt und fuhr mit der nächsten Bahn zurück nach Bahrenfeld. Um zehn Uhr war ich wieder in meinem Zimmer, legte mich aufs Bett und holte den unterbrochenen Schlaf nach.

Seit der Zeit blicke ich nach dem Aufwachen immer auf die Datumsanzeige meiner Uhr. Ist es Sonntag, bleibe ich eine Stunde länger liegen. Auch als Ruheständler gönne ich mir diese zusätzliche Stunde. Es soll mir nicht noch einmal passieren, dass ich am Sonntag mein Bett fluchtartig verlasse. Das hat sich in meinem Gedächtnis fest eingeprägt, und auf mein Gedächtnis kann ich mich verlassen.

Daran glaube ich so lange, bis mir jemand das Gegenteil beweist.

erstellt am 13.04.2011

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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