Der schwarze Markt

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(von Ingeborg Eva Witt)

Eine Begebenheit aus der Nachkriegszeit bleibt bei mir immer in Erinnerung. Es ging um die Gesundheit unserer kleinen Tochter. Sie wurde 1947 geboren. In der Zeit wurden noch Lebensmittelkarten ausgegeben. Für Säuglinge, Kleinkinder, Kinder unter 6-10 Jahren, Jugendliche, normale Bürger, Schwangere und Schwerarbeiter. Jeder dieser Personengruppe bekam die zu ihm passende Lebensmittelkarte.

Die Säuglingskarte war für uns allerdings selten eine große Hilfe. Unsere Tochter wurde gestillt und brauchte daher keine Abschnitte der Lebensmittelkarte. Aber nach 8 Monate reichte die Muttermilch nicht mehr aus und es musste mit der Milchflasche ergänzt werden.

Nun erst stellte sich heraus, dass unsere Tochter eine Kuhmilchallergie hatte. Der Kinderarzt verordnete das Milchpulver Pelagon. Wir hatten zwar nun ein Rezept, doch leider hatte keine Apotheke dieses Milchpulver. Es war aber bekannt für Säuglinge und Kleinkinder, die keine Kuhmilch vertrugen. Wir suchten viele Apotheken in Hamburg auf, doch immer wieder mussten wir hören, dass es dieses Milchpulver zurzeit nicht gibt. Der Kinderarzt gab uns dann den Ratschlag, wir sollten ins Kinderkrankenhaus in Rothenburgsort gehen, dort würden von Müttern Milch abgegeben, die entweder zu viel hatten oder deren Baby gestorben war. Es war ein Anreiz für die Mütter, denn sie bekamen Geld für ihre Milch. Wir hatten leider kein Glück. Zu der Zeit, wo wir so dringend Mich benötigten, war keine „Milchmutter“ vorhanden.

Diese tiefe Enttäuschung! Ich bin extra mit dem Kinderwagen vom Hauptbahnhof durch Hamm und Hammerbrook, durch die Trümmerstraßen, vorbei an den Ruinen der zerbombten Häuser gegangen. Das Kinderkrankenhaus in Rothenburgsort war zwar notdürftig ausgestattet, um kranke Kinder aufzunehmen, aber unsere Tochter war ja nicht krank. Diesen endlosen Weg zurück und ohne rettende Milch! Ich war verzweifelt. Unsere kleine Tochter bekam Untergewicht.

Und dann geschah das Wunder. Ihr Patenonkel brachte uns eine Dose Pelagon, sie reichte eine Woche. Von jetzt an bekamen wir jede Woche das Milchpulver. Die Dose kostete damals 120,– Reichsmark. Der Onkel kaufte das Pelagon auf dem Schwarzen Markt. Wir prüften es sehr sorgfältig, denn es wurden auch verfälschte Sachen angeboten. Unsere waren aber immer original verpackt.

Wie kam der Patenonkel eigentlich über Monate zu diesem Produkt, fragten wir uns, denn in den Apotheken war es immer noch nicht zu erhalten.

Die Erklärung klingt aus heutiger Sicht ziemlich unwahrscheinlich, aber es hat sich wirklich so zugetragen. Rund um den Hauptbahnhof waren die Häuser in der Rosenstraße, Raboisen und Brandsende zum Teil zerstört. In mitten dieser Trümmerlandschaft baute ein Herr St. in einem unzerstörten Keller eines Hauses eine Bar aus. Wer Beziehungen hatte, konnte alles erreichen oder bekommen.

Herr St. und der Patenonkel kannten sich von früher, er hatte ihn in der Bar als Geschäftsführer angestellt. Er allein hatte den Verkauf der Einlasskarten zu organisieren. Es war eine sehr elegante, wunderschöne Bar. Viele Künstler, die den Krieg überlebt hatten, traten hier zum ersten Mal wieder auf. Lothar Olias, Friedel Hensch und die Cyprys sind mir noch in Erinnerung. Die Hautevolee, also die „Oberen“ in gehobenen Stellungen, die reichen Hamburger, waren dort Stammgäste. Der Patenonkel nutzte seine „Macht“ aus, er gab die Einlasskarten nur an reiche Gäste aus und von diesem Geld kaufte er für unsere Tochter das lebensrettende Milchpulver.

Eine unmoralische Handlung. Aber in dieser Zeit, in der Nachkriegszeit bis zur Währungsreform am 20. Juni 1948, war der „Schwarze Markt“ die einzige Möglichkeit, zu überleben. Die „Schwarzmarktwährung“ waren amerikanische Zigaretten. Wer nicht rauchte, konnte dafür Brot oder Butter, Schuhe oder andere Dinge des täglichen Lebens eintauschen. So hat der „Schwarze Markt“ unserer Tochter damals das Leben gerettet.

Wer die Zeit nicht erlebt hat, kann sich den krassen Unterschied zwischen den Ruinen und dieser Bar mit Tanzmusik, Wärme, eleganter Kleidung und Helligkeit nicht vorstellen. 

Aber so war das damals.

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