Der Russe mit dem Hühnerkarussell

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Menschliche Verständigung erfordert Kongruenzen auf drei Gebieten: Als erstes brauchen beide Kommunikanten eine gemeinsame Sprache samt Grammatik und Semantik. Bedeutsam ist aber auch eine emotional gleichartige oder ähnliche Erfahrung bis hin zu analogen psychischen und physischen Belastungen. Da jeder Mensch eine Erfahrung in Liebesdingen hat, erliegt er literarischen oder filmischen Liebesepisoden von Romeo und Julia bis Faust und Gretchen, den Kitsch-as Kitsch–can – Schmonzetten der Hedwig Courths‑Mahler oder Rosamunde Pilcher. Oder er hat Alltagsprobleme von der Sexualität bis zur Kriminalität erlebt und begeistert sich am SeelenStriptease mittäglicher Talkshows. Drittens aber bedarf es einer Schnittmenge an historischer und politischer oder weltanschaulicher Bewusstheit, über die man die soziale Situation des Gegenübers einzuschätzen ermag. Keine dieser drei Voraussetzungen lag vor, als ich auf den geflohenen Russen traf. Man schrieb das Jahr 1944, ich war neun Jahre alt. Wieder einmal war ich im großen Wald auf der Endmoränenhöhe, beobachtete Ameisen, Käfer oder Ringelnattern oder sammelte für meinen Indianerschmuck die Federn von Waldtauben, Elstern oder Eichelhähern. Da trat aus dichtem Gebüsch ein Mann in der abgewetzten Uniform der Roten Armee hervor, ein offensichtlich geflohener Kriegsgefangener. Er sprach nicht deutsch, ich nicht russisch. Seinen lebhaften Gesten entnahm ich schließlich, dass er mir anbieten wollte, was er in seinen Händen trug – ein handgeschnitztes Spielzeug oder Volkskunstwerkchen aus Holz. Diese liebevoll wohl nur mit einfachsten Mitteln hergestellte Arbeit bestand aus einer runden Scheibe, die sich mittels einer Zahnradmechanik drehen ließ. Auf der Scheibe saßen fünf oder sechs Hühnchen, die von der Mechanik zusätzlich veranlasst wurden, nacheinander eine Bewegung zu machen, als wollten sie nach einem Körnchen picken. Das war zwar kein Spielzeug für einen Knaben meines Alters, aber für meine kleine Schwester vielleicht durchaus geeignet. Als Gegenleistung erwartete der Mann von mir etwas zu essen, doch ich hatte nichts bei mir, und mich nach Hause gehen lassen konnte er eigentlich nur bei Gefahr für Freiheit und Leben; denn ich hätte ja möglicherweise uniformierte, bewaffnete und rassenfanatische Erwachsene mit zurückbringen können. Dass er mich trotz dieser Lage anzusprechen gewagt hatte, hat mir später deutlich gemacht, welchen Hunger er gelitten haben musste – aber auch, welche Angst. Den Hunger kannte ich nicht; denn in unserer sechsköpfigen Familie wurden jährlich zwei fette Schweine geschlachtet. Wie also sollte ich mich in ihn hineinversetzen? Auch wusste ich wenig über die Situation russischer Kriegsgefangener. Ihr Lager befand sich am Rand jenes Waldes. Von dort her kamen jeden Tag die beiden lwans, die bei meinem Großvater auf dem Obsthof arbeiteten, ein Moskauer Ingenieur und ein weißrussischer Bauer, beide trugen wirklich den Namen lwan. Sie waren höchst freundliche Menschen, schnitzten mir mit Mustern verzierte Haselnussstöcke oder einen Stab als Sonnenuhr, bei dem man ein Hölzchen durch ein Bohrloch schob und den senkrechten Schattenfall auf einer kleinen Skala ablesen konnte. Den Zeitvergleich muss wohl unsere Küchenuhr geliefert haben. Eigentlich durften russische Kriegsgefangene bei Strafe nicht in Privatwohnungen sein und dort gar die Uhr ablesen, aber meine Großeltern, alte Sozialdemokraten, nahmen es im Umgang mit den “Untermenschen” nicht so ernst.

Wie in der NS-Zeit Russen sonst kujoniert wurden, erlebte ich, als ich mit meinem Urgroßvater einmal mit dem Handwagen zu seinem Kleingärtchen zur Kartoffelernte gefahren war. Beim Rückweg begegnete uns auf der Straße eine Schar russischer Kriegsgefangener. Urgroßvater, ein Mann etliches über 70 Jahre alt, wurde von den bewachenden deutschen Soldaten brutal daran gehindert, den abgemagerten Gestalten einige Knollen zuzustecken. Irgendwann erlebte ich sogar, wie SS-Leute auf einen geflohenen Russen Jagd machten und ihn wie Wild abknallten. Das muss wohl vor der Begegnung im Wald geschehen sein; denn sonst hätte sich in mir sicherlich der Gedanke verfestigt, der Gejagte sei mein Russe mit dem Hühnerkarussell. Freilich wird ihm kaum ein anderes Schicksal zuteil geworden sein.

 

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

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