Der Negerkuss

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Um 1950 war es, da rumpelte eines Tages ein bunter Bus mit verspiegelten Fenstern auf den Obsthof meines Großvaters, was die Nachbarschaft zu einem kleinen Volksauflauf zusammenrief. Erst stieg nur der Fahrer aus und verursachte prompt Furore: „Oh, ah, ein Neger!” Das potenzierte sich, als auch die Tür auf der anderen Seite gleichfalls einen Mann entließ, den König oder Häuptling eines Ewe-Stammes, würdig anzusehen, sonderlich wegen eines uralten Kneifers, der sich allenfalls als „Pinte-nez” apostrophieren ließ.

Die nächsten „Ahs!” und „Ohs!” entquollen den Lippen der Urwaldmajestät und meines Opas, die sich sofort bei beidseitigem Rückenklopfen umarmten wie Winnetou und Old Shatterhand, während der Bus nun eine Schar togolesischer Kinder und Mütter entließ, die Häuptlingsfamilie, Lieblingsfrauen und Kebsen, ein Harem von Tropenschönheiten in weitärmeliger kimonoartiger Gewandung mit viel Schwarz und Gelb, Frauen mit elfenbeinweißen, blitzenden Zähnen und einer palisanderfarbenen Haut. Das war meine erste Begegnung mit leibhaftigen Negern, wie man solche Exemplare ungeniert nannte. Sie hießen weder Schwarze noch gar Farbige – als wären sie bunt! Ich sehe diesen ganzen Rummel mit der political correctness eigentlich immer noch nicht ein, da ja das aus dem spanischen „negro”, „negrito” (Schwarzer, schwarz) übernommene Lehnwort letztlich gar nichts Diskriminierendes aussagt, sondern erst die von den ultrarassistischen Yankees geprägte Form „Nigger”.

Bei diesem ersten Zusammentreffen mit „Negern” erhielt ich auch meinen ersten (und einzigen) Negerkuss, den mir 15-jährigem Knaben-Jüngling eine Ewe-Beauty aufs Haar drückte, eine Frau von 25,28 Jahren, also eine Matrone für mich, wobei sie meinen Kopf warm in die Kerbe ihrer Oberweite presste. Dieser Neger-Kuss – da hatte an mir der Sarotti-Mohr seine Schuldigkeit getan – war unvergleichlich, vor allem wenn ich an die unausstehlichen Schmatzer denke, die meine Hamburg- Holm-Seppensener Tante Petronella, wenn sie dem Postbus entstiegen war, vermeintlich innig auf die Wange zu klatschen pflegte.

Ja, beim kosmopolitischen Opa lernte man wahrlich Humanismus in Reinkultur. Auf diesen weltläufigen Großvater, der solche Edel-“Wilden” von Mensch zu Mensch kannte, war ich ernstlich stolz. Ich wusste zwar, dass er 1912-14 als Sanitätssergeant in Togo stationiert gewesen war, doch neu für mich war, dass er aus dieser Zeit einen Thronanwärter kannte, der nun also wohl einen Europabesuch dazu genutzt hatte, einen Abstecher zu seinem alten Freund in Stade zu machen, was gewiss nicht jener Treue und Verbundenheit geschuldet war, die man den Kralbewohnern ehemaliger Kolonien den Deutschen gegenüber gar zu gern nachsagt.

Leider fuhr der Bus schon spätnachmittags wieder nach Hamburg zur Einschiffung Richtung Äquator, wo man, wie Opa berichtete, nach den heftigen Gewittern gegen 14:00 Uhr geradezu den Chronometer stellen konnte.

Übrigens muss ich mich berichtigen: Ich nannte die Ewe oben „palisanderfarben”, und Palisander ist ein Holz von dunkelbrauner Tönung mit einem Touch ins Violette, was nun doch für extreme „Farbigkeit” spricht!

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

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