Der 1.September 1939

D

(von Ingeborg Eva Witt)

Die Erinnerung an den 1. September 1939 ist bei mir tief verankert. Die vielen einschneidenden Veränderungen haben mein weiteres Leben verändert.

Ich wollte am 23. August 1939 meinen 20. Geburtstag ganz groß feiern. Die erste Enttäuschung, die ich dabei bekam, war die Absage von meinem Freund, der Soldat war. Er schrieb mir, dass seine Truppe auf dem Weg nach Ostpreußen sei und er keinen Urlaub bekäme. Auch meine Klassenkameradinnen, die gerade ihre Dienstpflicht ausübten, schrieben mir, dass sie im Manöver waren oder Urlaubssperre hatten, die kamen also auch nicht. Und somit war die Hälfte meiner Gäste verhindert. Ich feierte dann den Geburtstag im kleinen Rahmen mit der Familie und ein paar Freundinnen.

Ich verschwendete keinen Gedanken an die politische Lage. Mein Vater, der anders als ich mit gemischten Gefühlen die politischen Nachrichten hörte und die aktuellen Geschehnisse beobachtete, war sehr besorgt und skeptisch über die derzeitige Lage. Er hatte immer das Gefühl, dass die ganze Entwicklung unweigerlich zum Kriege führen würde. Ich war deshalb böse mit ihm und schalt ihn als “alte Unke”. Wie recht sollte er behalten. Aber ich schob den Gedanken, dass wir Krieg bekommen würden, einfach beiseite.

Am 1. September gab es für mich ein schreckliches Erwachen, denn die Gedanken, die man beiseite geschoben hatte, wurden Wirklichkeit. Nie vergesse ich die heisere, brüllende Stimme von Hitler, als er ins Radio schrie: “Ab 5:00 Uhr wird zurückgeschossen!” Als ich das hörte, überzog mich eine Gänsehaut und ich war bald starr vor Entsetzen. Der erste Gedanke galt meinem Freund, den ich in Polen vermutete, denn wenn er schon aus Ostpreußen geschrieben hatte, war mir klar, dass er wohl zu der Truppe gehörte, die in Polen einmarschierte. Es war tatsächlich so, wie er mir später berichtete.

Der Gedanke, dass zurückgeschossen würde, war für uns unvorstellbar und ich war auch so naiv gewesen und hatte all die Vorboten gar nicht beachtet. Es kamen schon sehr früh diese Anordnungen. Das ging durch die Presse. Es mussten die Dachböden geräumt werden. Es durfte dort nur eine Kiste mit Sand stehen und ein Eimer mit Wasser, ein Leuwagen und ein Feudel. Das war dann die sogenannte Feuerpatsche. Damit sollten die Funken der Brandbomben gelöscht werden.

Wer den Feuersturm in Hamburg, wie ich miterlebt hatte, dem kommt es immer noch wie Hohn vor, dass man uns weismachte,   Funken von Brandbomben, die durch das Dach fielen, damit löschen zu können. Denn die Brandbomben, die durch die Decke fielen, setzten sofort den ganzen Dachstuhl in Brand. Das passierte sehr schnell. Die meisten Brandbomben fielen sogar durch bis ins Erdgeschoss und dann stand das ganze Haus in Flammen. Auch mussten die Keller geräumt werden. Der Luftschutzwart sorgte dafür, dass ein Kellerraum als Schutzraum hergerichtet wird. Das bedeutete, er musste erst einmal leer sein, damit Sitzgelegenheiten aufgestellt werden konnten, um sich dann, wenn dort unten Schutz gesucht würde, hinsetzen zu können.

Die Kellerfenster, die nach außen gingen, mussten mit Brettern vernagelt oder mit Sandsäcken gesichert werden. Eine Notbeleuchtung musste installiert werden. Albern war aus meiner heutigen Sicht die Markierung der Notausstiege. Es wurde mit weißer Farbe draußen am Haus ein Rahmen gestrichen. Da stand dann drauf “Notausstieg”. Wer nachher die eingestürzten Häuser gesehen hat, weiß, dass von diesem Notausstieg nichts mehr zu sehen war, denn die Trümmer lagen auf dort drauf. Die Leute kamen, wenn schon, aus ganz anderen Schlupfwinkeln aus den Trümmern, nicht aus den Notausstiegen. Weil die Hauskeller den Bewohnern deswegen zu unsicher waren, suchten sie lieber einen nahegelegenen, öffentlichen Luftschutzbunker auf.

Die Einrichtung der Schutzräume und die Räumung der Dachböden waren an sich schon die Vorboten, denn die Luftschutzwarte gingen schon Monate vorher durch die Häuser und kontrollierten, dass alles so war, wie es angeordnet wurde.

Ab dem 1. September gab es die Anordnungen, alles zu verdunkeln, nämlich Straßen, Häuser, Bahnen usw. Für die Wohnungsinhaber bedeutete das, alle nach außen liegende Fenster zu verdunkeln, mit schwarzer Pappe, schwarzen Vorhängen oder Rollos. Worauf zu achten war, dass die seitlichen Ritzen vollständig abgedichtet wurden mit zusätzlichen Klammern an den Seiten. Und somit fiel auch kein Lichtstrahl aus den Fenstern der Häuser. Die Straßenlaternen hatten dunkelblaue Glühlampen. Ebenso die Straßenbahnen. Die Nummernschilder waren kaum zu erkennen, weil alles in dunkler Farbe war. Es durfte überhaupt kein Lichtstrahl zu sehen sein, damit die feindlichen Flugzeuge keine Angriffsflächen hatten.

Weil die Schaufenster nicht mehr beleuchtet und die Straßen dunkel waren, war alles trostlos und deprimierend. Wir Fußgänger trugen an unserem Revier phosphorisierende Plaketten, damit wir uns nicht anrempelten. Kontrolliert wurde diese Verdunklung durch die Luftschutzwarte, die durch die Straßen ging. Wehe dem Wohnungsinhaber, wo aus dem Fenster ein kleiner Lichtstrahl zu sehen war. Genützt hat diese Verdunklung nichts, denn die Bomben trafen trotzdem die Häuser.

Im August wurden Bezugsscheine ausgegeben, mit denen man nur Ware einkaufen konnte. Es gab Bezugsscheine für Lebensmittel, Textilien, Schuhe, Rauchwaren usw. Als das bekannt wurde, haben sich viele Leute mit Vorräten eingedeckt. In meiner Familie war es leider anders gekommen. Meine Eltern waren verreist und meine Oma hütete bei uns ein. Wir hatten Haushaltsgeld bekommen und meine Oma und ich beschlossen, sehr sparsam zu sein und meinen Eltern eine Freunde zu machen, wenn sie zurück kamen und wir eine Summe von dem Haushaltsgeld gespart hätten. Weil wir so naiv waren und uns gar nicht um die politische Lage gekümmert haben, war uns die Bedeutung der Bezugsscheine nicht bekannt. Wir kauften also wenig ein und verbrauchten die vorhandenen Vorräte im Haus. Ich werde nie das Entsetzen meiner Eltern vergessen, als sie von der Reise kamen und wir ihnen freudig das ersparte Geld präsentierten, anstatt wie alle anderen, Vorräte „gehamstert“ zu haben. Wir mussten also gleich zu Anfang der Zuteilung, die kostbaren Lebensmittelscheine zum Einkaufen verbrauchen, während andere Familien ein Polster hatten. Die Rationen für Lebensmittel waren knapp bemessen. Im Krieg war es so eben ausreichend. Aus meiner Erinnerung waren Lebensmittelrationen so bemessen:

Es gab fünf verschiedene Einteilungen: Kinder, Säuglinge, stillende Mütter, Erwachsene und Schwerarbeiter, und es galten folgende Rationen für Erwachsene pro Tag:

Brot                  500g
Nährmittel         50g
Fleisch               50g
Fett                    20g
Zucker               30g
Kartoffeln         500g

Der Zeitpunkt der Vergabe wurde durch Presse und Aushang bekannt gegeben und war örtlich verschieden.

Schlimmer war es allerdings in der Nachkriegszeit. Die Besatzungsmächte erlaubten nur so viel, dass wir nicht verhungerten.

Es waren also doch einschneidende Veränderung im täglichen Leben: Rationierung der Lebensmittel, Verdunklung, Angst vor Fliegeralarm, Sorge um Angehörige im Krieg, Verminderung des kulturellen Lebens, Tanzverbot, Leben nach dem nationalsozialistischen Regime (Judenverfolgung, Bücherverbrennung).

ausgefertigt im August 2009

Über den Autor

Ehemalige Autoren

Neueste Beiträge

Kategorien