Das Roggenbrötchen

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Meine Geschichte mit dem Roggenbrötchen reicht schon viele Jahre zurück. Es begann damit, dass ich 1943 und meine Schwester im Jahr 1940 geboren wurde. Das war nicht unbedingt eine schöne Zeit für Kinder. Nach dem darauffolgenden Kriegsende wurde meine Schwester 1946 eingeschult. Das fand ich schon nicht so gut, weil ich zuhause bleiben musste. Ich wollte auch einen Ranzen tragen und wie die anderen Kinder zur Schule gehen. Und so waren meine Gedanken jeden Tag darauf gerichtet, was ich tun könnte, um ebenfalls in die Schule zu kommen.

Durch einen Zufall ergab sich bald eine Gelegenheit. So kam meine Schwester wie üblich aus der Schule nach Hause und entgegen ihrer Art, erzählte sie von sich aus meiner Mutter, was es Neues in der Schule gab. Meine Mutter erwartete die üblichen Berichte über Kinderstreit und anderem mehr. Doch Sie erzählte, dass es ab sofort in der großen Pause für jedes Kind ein Roggenbrötchen geben wird. Das war für die damaligen Verhältnisse, kurz nach dem Krieg, eine willkommene Sache für alle Schulkinder.

Nach einigen Tagen erzählte mir meine Schwester, dass sie die Brötchen nicht mochte. Ab diesem Zeitpunkt waren meine Sinne und Gedanken nur noch darauf gerichtet, wie ich an diese Zusatzverpflegung gelangen könnte.  Leider bestand das Problem darin, dass das Brötchen nur in der Schule gegessen werden durfte. Da ich aber das schulpflichtige Alter noch nicht erreicht hatte, war für mich diese Zusatzkost in nicht erreichbarer Nähe. Mein Kopf war voller Ideen. So dauerte es nicht lange, bis ich eine Lösung fand, die mich zu einem guten Ergebnis führte.

In unserem Haushalt suchte ich ein geeignetes Objekt, welches sich für mein Vorhaben eignen sollte: Eine kleine Aktentasche, die wahrscheinlich meinem Vater gehörte und die er als Dachdecker bequem mit an seinen Arbeitsplatz genommen haben könnte. Da sich mein Vater noch in russischer Kriegsgefangenschaft befand, blieb diese Tasche irgendwie unentdeckt. Sie wartete für mein damaliges Verständnis auf einen neuen Besitzer, den sie nun endlich, in Vorbereitung meiner Tat, in mir fand.

Was musste ich nun weiter tun, um unabhängig von meiner geringen Körpergröße und dem zarten Aussehen in der Masse der echten Schulgänger nicht aufzufallen?

Ich nahm eine alte Wäscheleine, schnitt etwas ab und zog dieses Stück durch vier Löcher, die ich zuvor mit einer Schere in die hintere Seite der Tasche bohrte: Der Schulranzen war fertig. Das alles konnte ich nur machen, wenn meine Mutter sich nicht im Haus befand.

Jetzt bahnte sich aber die mit der Entwicklung meines Planes bislang nicht berücksichtigte größere Hürde an. Ich kannte mit meinen erst fünf Jahren die Uhrzeit noch nicht, an die der Erfolg meines Vorhabens gebunden war. Zum Glück befand sich unsere Wohnung in der unmittelbaren Nähe dieser Schule. So konnte jeder in der Straße das Klingelzeichen für die große Pause hören. Auch bei mir kam das Geläute an, da ich, von meinem Vorhaben besessen, mich vorbereitend darauf konzentrierte.

Nun war es soweit. Ich zog endlich mit meinem Ranzen auf dem Rücken los. In der Schule angekommen, ging ich, von meiner Schwester unbemerkt, in der Menge der Kinderschar zielgerichtet wie alle anderen in den großen Speisesaal. Dort nahm ich, wie jeder normale Schüler selbstverständlich mein mir zustehendes Roggenbrötchen in Empfang. Das ging so mehrere Wochen. Sogar die Küchenfrauen dachten, ich gehöre dazu.

Meine Ausflüge verliefen über eine längere Zeit unentdeckt. Da erblickte meine Mutter die zerschnittene Wäscheleine. Der Ärger war natürlich groß, denn in der damaligen Zeit war der Kauf derselben nicht leicht möglich. Den Ärger habe ich aber gut überstanden. Nun durfte ich ganz offiziell, wie andere Kinder auch, weiterhin mein geliebtes Roggenbrötchen – auch ohne Heimlichtuereien – mit Genuss essen.

Heute schmeckt mir ein einfaches Roggenbrötchen, trotz der Vielfalt anderer Angebote, immer noch wie damals – am besten. 

Über den Autor

Renate Schulze-Trautmann

Jahrgang 1943
Lehrerin und Erzieherin

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