Das Haus der vier Elemente

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Ob die alte Hansestadt Stade es nun für einen Vorzug halten mag oder nicht: Ich bin dort geboren. Freilich bin ich kein Stadtkind, sondern wuchs nur innerhalb der Stadt und Gemarkungsgrenzen auf, an deren äußerstem südwestlichen Ende, wo ringsum Agrarwirtschaft betrieben wurde. Wenn ich einmal die zu einem prächtigen Laib geformte Teigmasse zum Backofen des bäuerlichen Nachbarn zu transportieren hatte, schob ich die Karre durch eine Grenzfurche seines Ackers, da das allemal der kürzeste Weg war.

Mein Geburtshaus – ach nein, so etwas gibt es im gebräuchlichen Sinne nicht; denn zur Welt kam ich im Kreißsaal des Städtischen Krankenhauses. Also denn – mein Elternhaus – nein, das gibt es auch nicht, vielmehr gehörte das Haus meinen Großeltern mütterlicherseits. Nicht Geburts- oder Elternhaus – was denn dann? Ich bin dort aufgewachsen, also: Gewächshaus? Aufgezogen, also Zuchthaus? Es sah anders aus, als man Häuser gemeinhin kennt. Es hatte kein Spitz-, Sattel oder Walmdach, sondern – damals höchst ungewöhnlich – ein mit Teerpappe gedecktes Flachdach. Es wies von außen auch keine Ziegel- oder Backsteinwände, kein Fachwerk auf, da es über gemauertem Sockel in der guten Zimmermannstechnik meines Urgroßvaters aus grobfaserigen Eternitplatten bestand, beides einheitlich weiß verputzt.

Die Straßenseite des Hauses – Entschuldigung, wiederum Fehlanzeige: Das Haus stand an einem ländlichen Fahrweg, von dem bei uns vorbei ein Pfad in die Wiesen führte, auf dem manchmal an Wochenenden die alten Herren des Heimatvereins zu Exkursionen sich verlustierten. Von diesem Weg schirmte eine prächtige Buchenhecke das Gebäude ab, das sich in der Landschaft wie ein weißer Kubus von etwa 15 mal 30 mal 4 Metern ausnahm. Vom Hauptweg her, also dem „Kopfende“, befand sich eine Durchgangslücke in der Hecke, zum Eingang führend, der vier oder fünf Stufen in einen auf Wohnebene gelegenen Windfang mündete. Alles darunter war der Keller, ein halbes Souterrain, ausgedehnte Räumlichkeiten mit viel Lagerfläche, zwei gemauerten Pökelbecken und einer mit Buchenspänen beschwelten Räucherkammer für Würste und Schinken.

Wir selbst sowie die Postboten, die Sammler des Winterhilfswerks oder der Herr Benz, unser Hausfriseur, betraten das Haus von der Hofseite her. Hof – das war hier ein Obst- und Gemüsehof (Kirschen, Äpfel, Spargel, Erdbeeren), anfangs auch ein Geflügelhof für zweitausend weiße Leghorn, die aber im ersten Jahr der Hühnerpest erlegen waren.

Von der Hofseite her führten vier Stufen abwärts zunächst in die geräumige Waschküche, von der Küche und Speisekammer abzweigten. Davor befand sich ein gewaltiger Kessel mit einem Fassungsvermögen von wenigstens 120 Litern, eingemauert und beheizbar. Dummerweise kann ich mir trotz aller Anstrengung nicht mehr so richtig vorstellen, wie Großmutter, angetan mit graukarierter Schürze, hinter einem Dampfnebel mit vom Wasser klammen, fast abgestorbenen Händen die Wäsche knetete und walkte, wrang und rubbelte. Dagegen steht mir das zweckdienliche Abflussloch im Fußboden deutlich vor Augen.

Dort flossen Schaum und Wasser ab, wenn wir Gören – meine Schwester und ich des Samstags in die Zinkwanne kamen und munter herum planschten.

In der Waschküche oder dem Waschkeller fand auch die Haarwäsche statt, zu der Großmutter meinen Kopf mit schraubstockartigem Griff über einer großkalibrigen Schüssel gefangen hielt und mich mit der anderen Hand so hart traktierte, dass ich mich nur wundern konnte, wenn meine flachsblonde Tolle dem standhielt, ohne auszufallen.

Zumeist fand diese Prozedur statt, bevor der Herr Benz ins Haus kam und den Waschkeller zum Friseursalon umfunktionierte. Er, dieser Herr Benz – denn die hübschesten Pointen schreibt doch das reale Leben – hatte lange auf Nachwuchs warten müssen und nannte seine Tochter, als sie dann endlich kam, ausgerechnet Mercedes!

Ansonsten hatte die Waschküche an Schlachttagen ihre Bedeutung, indem der große Kessel die Würste zum Brühen aufnahm. Es gibt übrigens, von Gülle und Misthaufen abgesehen, zwei wundervolle Landgerüche: den Duft brühender Wurst und, auf einer Bauerndiele, den Geruch geschnittener Rüben.

Die zum Schlachten erforderlichen zwei Schweine hatten ihren Stall – zusammen mit unserem Plumpsklo, zu mehr reichte die Zivilisation nicht – in einem Anbau, an dessen Wand die offenen Leiber auf einer Leiter den Trichinenbeschauer erwarteten. Nach dem Bolzenschuss war es wieder Großmutter in der graukarierten Schürze gewesen, die das Blut mit nacktem Arm rührte und rührte. Gewissermaßen schmeckte man bei der Blutwurst imaginär auch immer Großmutters Arm mit. Das bei allem benötigte Wasser bezogen wir per Handpumpe, die links gleich neben dem Hofeingang lag. Oft musste man vor der täglichen Mühsal mit dem Pumpenschwengel erst einmal einen Kessel Wasser einfüllen, bevor der Saugvorgang klappte, im Winter dann selbstverständlich heißes Wasser.

Neben dem Waschkessel war die Tür zur Küche mit anschließender Speisekammer. Am Kohle- und Torfherd stand Großmutter, die in guter alter Tradition als Mädchen „in Stellung“ in Hamburg das Kochen gelernt hatte. Um den Küchentisch versammelte sich die ganze Familie, mit den Kriegsgefangenen über ein Dutzend Personen, oft noch verstärkt durch Wehrmachtssoldaten, Bewacher des nahe gelegenen Gefangenenlagers, als Benutzer des Nebenweges vom Duft der Kartoffelpuffer und der gleichermaßen vorzüglichen Bratkartoffeln angelockt.

Man kann sagen, dass sich der eigentliche Umgang der Familie in Küche und Waschkeller vollzog. Die Treppe hoch ging es auf die Wohnebene, geradeaus auf die Altenteilerzimmer der Urgroßeltern und links und rechts einerseits in die Räume der Großeltern mit der Tante samt Kind und andererseits in die elterliche Wohnung und die Kinderzimmer von meiner Schwester und mir.

Erdacht hatte sich das Gebäude mein Großonkel, Bruder der Großmutter, ein Baumeister, für meinen Großvater, als dieser, kaufmännischer Leiter des Krankenhauses und Sozi-Senator in Stade, von den NS-Machthabern in die Arbeitslosigkeit entlassen worden war und sich eine neue Existenz mit Hühnern, Äpfeln, Kirschen usw. aufbauen musste.

Für Kinder war das Haus optimal- mit großen Spielflächen in den Kellern und ausgedehnten Fahrbahnen für die elektrische Eisenbahn durch zwei Langflure hin, optimal auch mit dem Flachdach, von dem aus man so wunderschön auf den lavendel-umstandenen Rasen vier Meter hinab springen konnte und doch immer seine Knochen wieder einsammelte.

Im unteren Teil war das Gebäude den Elementen Erde und Wasser gewidmet: Handpumpe und Waschkeller -, im oberen den Elementen Feuer und Luft. Mit nackten Fußsohlen aufs Dach, das konnte im Sommer schön warm bis heiß sein, das Springen vom Dach dauerte nur eine luftige Endlichkeit, im Unterschied zu den nächtlichen Träumen, in denen man sprang und fiel und fiel und ohne Ende fiel.

Über den Autor

Jürgen Hühnke

Jahrgang 1935
Gymnasiallehrer

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