Das Gebet

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Sie sitzt vor mir und blickt mich an. Meine Mutter blickt durch mich hindurch. Was ist? frage ich sie. Ich kann nicht  mehr beten! sagt sie. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sie hat in ihrem ganzen Leben – soweit ich mich erinnern kann – nichts mit der Kirche gehabt. Ich habe sie nie beten hören. Meine kirchliche Erziehung hat sie meinen Großeltern überlassen. Sie war auch kein großer Kirchgänger. Während des Krieges ist sie mit mir sonntags in die Kirche gegangen. Das weiß ich noch. Später – nach dem Krieg – nicht mehr. Über Glaubensfragen haben wir uns nie unterhalten. Warum auch? Das Leben war in den Zeiten danach schwer genug. Die Kirche spendete ihr wohl keinen Trost. Ich habe auch nicht versucht, sie zu bekehren. Schließlich war sie meine Mutter. In meiner kindlichen Welt wusste sie immer was zu tun ist. Für mich war sie gläubig ohne die religiösen Gesetze beachten zu müssen. Die Kirchengeschichte lernte ich im Religionsunterricht kennen. Sie interessierte mich. Sie war teilweise sogar spannend. Ich lernte die gängigen Gebete und Lieder auswendig. Die Kirchengebote bestimmten mein Leben in  der Anfangsphase. Sie waren manchmal auch lästig. Wieso sollte ich alle 4 Wochen zur Beichte gehen? Meiner Mutter war es egal, aber meine Großmutter legte großen Wert darauf. Ich tat es weil ich sie nicht enttäuschen wollte. Ich versuche, mich an die Gebete zu erinnern. Beim Vaterunser tun sich Lücken auf und beim Mariengebet kriege ich gerade mal die ersten zwei Zeilen zustande. Beim Beten geht es aber nicht um den Text. Wichtig ist die innere Einstellung. Es geht darum zu glauben. Gebete sind nur schmückendes Beiwerk. Die kann man sich jederzeit wieder antrainieren. Und warum soll man jeden Sonntag in die Kirche gehen?  Als ich zur ersten Kommunion ging, ist meine Mutter auch in der Kirche gewesen. Danach habe ich sie nicht mehr in der Kirche gesehen. Nun ist sie alt geworden. Sie ist über Neunzig. Sie hat jetzt viel Zeit und denkt über ihr Leben nach. Sie denkt auch über das Leben danach nach. Sie sucht ihren Weg zur Kirche. Alleine schafft sie das  nicht. Sie hat den Geistlichen ihrer Gemeinde angerufen und ihm ihr Problem geschildert. Sie haben einen Termin verabredet. Er wird kommen und ihr helfen. Ich sage ihr, dass ich sie dabei unterstütze. Mir wird warm und kalt. Mein Glaube hat im Laufe der Jahre gelitten. Wahrscheinlich brauche ich auch Hilfe, um wieder zum Glauben zurückzufinden. Ich weiß nicht, wie die Gespräche mit dem Geistlichen abgelaufen sind. Meine Mutter hat mit mir darüber nicht gesprochen. Ich weiß nicht, ob sie zum Glauben zurückgefunden hat. Da sie ruhig von uns gegangen ist, hat sie wohl ihren Weg gefunden.   

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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