Augenblickliches

A

An einem Kartenständer hing die Karte von Europa, an dem anderen die Weltkarte mit Europa, Asien, Australien, Afrika und Amerika. In der Schule wollte man uns die Welt näherbringen. Gebannt schauten wir auf die vor dem Lehrerpult aufgebauten Rollkarten mit den Erdteilen und den riesigen Wassermassen. Wir sahen den Atlantik, den indischen Ozean und den Pacific. Ganz oben im Norden und ganz unten im Süden war alles weiß. Dort gab es ewiges Eis. Unser Klassenlehrer zeigte auf Europa und hier auf die Schweiz. Der Rhein kommt aus der Schweiz, durchfließt den Bodensee und stürzt bei Schaffhausen in die Tiefe. Es ist ein mächtiger Wasserfall und es sei sehr laut dort. Das Rauschen der stürzenden Wassermassen übertönt alles. Er bewegte den Zeigestock über die Alpen und deutete auf einen hochaufragenden Berg. Das sei das Matterhorn bei Zermatt. Wir verließen die Schweiz und landeten in Finnland. Helsinki – so sagte er – ist die Hauptstadt. Wenn man über die Eismeerstraße Richtung Norden fährt überquert man den nördlichen Polarkreis. Am Tage der Sonnenwende geht hier die Sonne nicht mehr auf und unter. So etwas gibt es auch auf der südlichen Halbkugel. Wir waren begeistert. Da wollten wir dann irgendwann hin. Er erzählte uns von den Goldsuchern in Alaska und in Kalifornien. In Mittelamerika lernten wir den Panamakanal kennen und ganz im Süden Kap Hoorn. Es gäbe dann noch den Suezkanal und den Kaiserwilhelmkanal. In Australien würden Schafe gezüchtet und es gäbe dort Kängurus und Koalas. Die sehen aus wie Teddybären. Der höchste Berg wäre der Mount Everest in Nepal. Das mächtige Gebirge sei der Himalaya mit einer Kette von hohen Gipfeln. Wir lernten China und Japan kennen. Es waren große Länder wie auch Kanada und Russland. Unser Klassenlehrer bewegte sich von der linken Karte zur rechten und umgekehrt. Wir hörten etwas von Vulkanen und waren plötzlich in Island. Hier gäbe es den größten Gletscher Europas, den Vatnajökull. Der Klingelton beendete die Unterrichtsstunde. Ende der Vierziger und am Anfang der Fünfziger gab es keine Lehrbücher und keine Atlanten. Alles wurde an die Tafel geschrieben oder wie in dem geschilderten Fall auf übergroßen Karten gezeigt. Wir schrieben mit und zeichneten die Länderumrisse in unsere Hefte. Vieles speicherten wir in uns ab. Erst viel später konnten wir die Länder besuchen, die wir in der Unterrichtsstunde kennengelernt hatten. Ich sehe mich am Vatnajökull in Island stehen. Ich sehe die Eismassen des Gletschers. Und ich war nicht überrascht was ich sah. Ich hatte ihn mir in der Schule vorgestellt und so war er auch, groß und mächtig. Am Gletscherfuß hatte sich ein kleiner Eissee mit schwimmenden Eisbrocken gebildet. Sie schimmerten weiß und blau. Es war so wie ich es mir gemerkt hatte. Das Augenblickliche in der Schule ersparte mir unbekanntes Hinsehen. Ich sah alles intensiver. Ich kannte es ja schon. Ähnliches passierte mir in der Schweiz beim Rheinfall und am Matterhorn. Es gibt ein Bild von mir am Polarkreis. In Kalifornien sah ich die Goldgräberstädte, in Russland lernte ich Moskau und Leningrad kennen. Überall, wo ich hinkam, sah ich Bekanntes. Ich hatte alles schon gesehen und in mein Heft gemalt. So etwas vergisst man nicht. Es ist das Augenblickliche, das nur noch abgerufen werden muss. Es ist dann so als wäre man schon da gewesen.       

Über den Autor

Uwe Neveling

Jahrgang 1937
Systemanalytiker

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