Arm oder Reich

A

von Edith Kollecker

Fast jeden Tag liest man in der Zeitung über die Armut einerseits und den Reichtum andrerseits!

Vor siebzig Jahren lebte ich auf einem kleinen Gut in Pommern. Mein Vater und 5 meiner Geschwister arbeiteten als Tagelöhner auf dem Gut, und das machte einen guten Deputatlohn aus. So konnten wir uns viele Tiere halten. Wir waren ein Neunpersonen-Haushalt.

Waren wir damals arm?? Meine Schwestern sagten ja! Sie hatten nicht so viele schöne Kleider wie die anderen Mädchen aus dem Dorf. Diese Familien hatten höchstens 1 oder 2 Kinder, die versorgt werden mussten. Wir waren 6 Mädchen und bekamen nur zu Pfingsten oder Weihnachten ein neues Kleid, sonst wurden die Kleider von den älteren Geschwistern aufgetragen. Es gab eine Tante, sie war Flicknäherin und sehr begabt. Sie hat später unseren Mädchen, so wie sie alt genug waren, das Kleidernähen beigebracht. Aus meiner damaligen Sicht waren sie immer gut angezogen, und ich habe später auch vom Kleidernähen profitiert.

Ich, damals 10 Jahre alt, würde sagen, wir waren reich. Unser Tisch war immer reichlich gedeckt. Wir hatten einen großen Gemüsegarten, der uns das ganze Jahr mit frischem Gemüse versorgte. Kirschbäume, Birnenbäume und Apfelbäume ernährten uns mit ihren Früchten das ganze Jahr über. Wir hatten 2 Kühe, wer hatte das schon im Dorf? Andere Familien konnten sich nur eine Kuh halten, weil sie weniger Deputat hatten. Dann waren da die zwei Schlachtschweine und zwei Ferkel, die nebenher ran wuchsen. Hühner circa 35, aber wer konnte die zählen. Die liefen frei herum und dann und wann kam eine Glucke aus einem Gebüsch mit 10 bis 12 kleinen Küken. Na, ja, ab und zu hat der Fuchs mal eine geholt. Auf dem Papier stand immer 35, für diese Zahl wurde dann eine Anzahl Eier abgegeben. Und dann die 4 Zuchtgänse. Jede Gans hat uns Jahr für Jahr 8-10 Güsselchen geschenkt. Was war das für eine Freude, wenn im Frühjahr vom Gut eine Weide zur Verfügung gestellt wurde und alle Familien kamen mit ihren Gänschen zu Besichtigung. Unsere Mädchen gingen stolz, jede einen Korb mit den kleinen Gänschen im Arm und die Muttergänse watschelten schimpfend hinter her. Sogar der Ganter war bereit den langen Fußweg zu gehen, um seine Lieben zu beschützen.

Die Enten waren faul, sie legten zwar Eier, aber fürs Ausbrüten mussten die Hühner herhalten und wenn die Glucke dann mit den geschlüpften Entchen spazieren ging, war das Geschrei groß, weil die Kleinen gleich in den Wasserbehältern paddelten.

Wir hatten 2 Katzen zum Spielen, die lagen oft bei uns mit im Bett. Sie bekamen Milch und sonst hatten sie sich Mäuse zu fangen. Zum Schluss war da noch der Prinz, unser Hund, der auch ein Angestellter vom Gut war und meinem Vater als Nachtwächter zur Seite stand. Er wurde sogar vom Gut beköstigt. Wir haben viel mit ihm gespielt, doch frei durfte er nicht rumlaufen, sonst hätte er das ganze Federvieh durcheinander gescheucht. Wir brauchten keinen Spielplatz, der ganze Hof gehörte uns. Am Tage wurde nie die Haustür abgeschlossen, jeder konnte kommen, wann immer er wollte, es wurde auch nie etwas geklaut.

Wie ist es nun, waren wir arm?? Nein, denn alle aus unserer Familie waren gesund, auch meine Eltern. Sie hatten alles unter Kontrolle und die ganze Arbeit von morgens bis abends verrichtet, sie fehlten nicht einen Tag.

Sehr viele Jahre später, mit Gesprächen unter Geschwister, haben auch sie ihre Meinung geändert. Sie waren jetzt frei, konnten sich leider auch nicht immer alles leisten oder später ihren Kindern nicht jeden Wunsch erfüllen, sei es ein Spielzeug oder ein Hund. Der größte Reichtum ist immer noch die Gesundheit, leider vergisst man es oft. Man muss dann nur seine Perspektive ändern.

Über den Autor

Edith Kollecker

Jahrgang 1934
Facharbeiterin

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