Der Alleebaum als Bremse

D

1946-47 war das Fahrradfahren nicht solch eine Selbstverständlichkeit wie heute. Glücklich der Mensch, der ein Fahrrad besaß. Meine Mutter hatte eines, wenn auch nur ein Herrenrad, so wurde dieses gehegt und gepflegt, wie heute so mancher Luxusschlitten von Auto.

In der Zeit hatten wir bei einem Bauern ein kleines Stück Land gepachtet zum Kartoffelanbau. Eines Tages wollte Mutti zum Kartoffelhacken mit mir dort hinfahren. Nun saß ich, 8 oder 9 Jahre alt, bei Mutti hinten auf dem Gepäckträger und die Fahrt ging los. Unterwegs wünschte ich mir nichts sehnlicher als auch Fahrrad fahren zu können. Am Acker angekommen, hackte Mutti Reihe für Reihe Unkraut und ich spielte im Straßengraben. Immer wieder ging ein sehnsüchtiger Blick zu dem Fahrrad, das an einem Baum lehnte. Es gab in meiner Klasse Mädchen die konnten auf einem Herrenrad fahre, das hatte ich schon gesehen. Ich schaute zu Mutti, sie beachtete mich gar nicht sie hackte fleißig unsere Kartoffeln. Da habe ich all meinen Mut zusammengenommen. bin zum Fahrrad geschlichen und schon hatte ich den Lenker in meiner Hand. Nun auf die Straße. Es war eine Lindenalleestraße, die nicht viel Verkehr hatte. Bei den anderen Mädchen hatte ich gesehen, wie man es machen musste. Das Rad etwas schräg legen, das rechte Bein unter der Stange hindurch auf die rechte Pedale stellen und sich mit dem linken Bein abstoßen. Ich weiß heute nicht mehr wie oft ich mich abgestoßen habe bis ich den Mut hatte es auf die linke Pedale zu stellen. Es war doch schwerer als ich dachte. Ich musste so viele Sachen auf einmal machen. Bein links, Bein rechts, Lenker gerade halten und Gleichgewicht halten. Hatte ich mein zweites Bein auch auf der Pedale, vergaß ich zu treten und schwupp stand es wieder auf der Erde. Irgendwann klappte es dann aber doch und ich bewegte mich vorwärts. Wie freute ich mich, aber nur kurz, denn ich wusste nicht, wie ich wieder absteigen konnte. Auf gar keinen Fall durfte ich das Rad fallen lassen, es war zu kostbar und ich selbst wollte doch auch nicht fallen. Wie viele Gedanken man doch in so kleinen Momenten haben kann. Angst vor Mutti, Angst vorm fallen und dann die Erleuchtung. Da waren doch die Alleebäume, ich steuerte einen an, lies den Lenker los, um sofort den Baum zu umarmen. Es ging. Ich hatte meine Bremse gefunden. Nun wurde ich mutiger ich fuhr zum zweiten Baum und zu dritten. Mein Gleichgewicht hatte ich jetzt schon gut im Griff nur zum bremsen brauchte ich noch die Umarmung des Alleebaumes.

An den folgenden Tagen habe ich Mutti immer gern zum Kartoffelacker begleitet. Als die Arbeit dort erledigt war, hatte ich mir auch die Sache mit der Bremse beigebracht und war glücklich. „Ich konnte nun auch Fahrrad fahren“. Wie ich damals glaubte, hatte ich es heimlich gelernt. Ich war schon verheiratet, da hat meine Mutter mir erzählt, wie sie mich immer beobachtete und sich gefreut hat, dass ich so ausdauernd war, aber das Bild wie ich immer die Alleebäume umarmt habe, hätte sie nie vergessen!

erstellt am 31.08.2010  

Über den Autor

Annemarie Lemster

Jahrgang 1938
Verkäuferin

Neueste Beiträge

Kategorien