Ein Frisör der alten Schule

E

(von Hans Meier)

Mein Ziel war das Städtische Krankenhaus in Kiel, um dort einen Besuch zu machen. So fuhr ich rechtzeitig los und war schneller als erwartet dort angekommen, denn das Krankenhaus war in unmittelbarer Nähe an der Autobahnausfahrt von Kiel nach Hamburg.

Da ich eigentlich schon seit Wochen meine Haare schneiden lassen wollte, nutzte ich die freie Zeit bis zu meinem Besuch, um in Krankenhausnähe einen Frisör aufzusuchen. Ich versuchte mein Glück in den Nebenstraßen. Erst später sah ich, dass direkt vor dem Krankenhaus ein Frisör gewesen wäre. Als ich diesen nach gut 15 Minuten in der Langenbeckstraße gefunden hatte, öffnete ich die Tür und hatte sie noch nicht ganz geschlossen, da blickte ich erstaunt in den Raum. So etwas hatte ich noch nie gesehen, dieser Frisörsalon war im Stil der fünfziger Jahre eingerichtet. Es war keine Menschenseele zu sehen, die uralten Sitzmöbel waren leer. Alte Waschbecken, Spiegel, Glasschränke und Frisörstühle, die in einer Reihe standen, versetzten mich in eine Zeit, die es mal gab. Hier ist die Zeit stehen geblieben, dachte ich und war etwas irritiert, ob ich hier überhaupt richtig bin.

An der Wandseite öffnete sich eine Tür. Ein sehr alter Mann trat in den Raum herein, begrüßte mich und fragte, was ich denn wolle. Einmal Haare schneiden sagte ich, er nickte und zog sich eine weiße Jacke an, deren Schnittmuster wohl auch aus einer anderen Zeit stammte. Ich nahm auf den bequemen Stuhl Platz und mir wurde eine Schürze aus dickem Stoff umgehängt. Vor mir war ein altes Waschbecken links und rechts der Holztresen, der schon recht stark abgenutzte Gebrauchsspuren aufwies. Jetzt erst bemerkte ich auch die uralten Hornkämme neben dem Waschbecken. Er nahm einen Kamm, eine Schere und wollte von mir genau wissen, wie ich meine Frisur haben wollte.

Er begann zu schneiden, nun bemerkte ich, dass seine Hand doch etwas zittrig war und sein Sehvermögen nicht mehr so gut, denn sein Kopf war recht nahe am Geschehen. Er atmete etwas schwer und häufig, doch ich sah ihn in voller Konzentration seine Arbeit machen. Ich war so angetan von seinem Tun, den mir unbekannten Instrumenten, deren Funktion ich nur erahnen konnte und den Flair des Raumes, dass es mir große Freude machte, dort zu sitzen.

Nun legte er Kamm und Schere ab und griff mit der Hand in die Luft. Ich sah im Spiegel, dass hinter mir ein langes Seil quer über den Raum gespannt war. Ein alter klobiger Elektromotor hing an einem Kabel herab. Mittels einer Rolle konnte er zu jedem Stuhl im Raume gezogen werden. Dieser Motor trieb eine Welle an, wie wir sie von einem Zahnarztbohrer her kennen, nur dass dieser den elektrischen Haarschneider antrieb. Mit überraschend leisem Motorgeräusch setzte er seine Arbeit fort. Links neben mir öffnete er eine klapprige Schublade, wo mehrere übergroße Haarschneideköpfe waren und wechselte sie.

Ich sagte noch, dass ich es wunderbar fände, dass er noch mit so alten Geräten arbeitet, wo doch heute alles so modern wäre. „…ja, das taugt alles nichts“, bekam ich zu Antwort. Fasziniert von diesen Menschen bemerkte ich mich jetzt erst im Spiegel. Ich lächelte die ganze Zeit, meine Augen freuten sich. Ich freute mich über diesen Menschen, dass er in seinem hohen Alter noch arbeiten darf, dass er für gute Arbeit seinen Lohn bekommt. Es sei hier meine Frage vorweggenommenen, die ich ihm am Schluss gestellte hatte, wie alt er denn wäre. Ich war völlig platt, als er mir sagte, dass er 93 sei.

Meine Besorgnis, dass unter seiner zittrigen Hand meine Frisur leiden könnte, hatte sich nicht erfüllt. Doch jetzt, wo er fast fertig war, griff er in eine Schublade und holte ein Rasiermesser raus. Mir wurde ganz anders, mein Kopf guckte gerade aus zum Spiegel, doch mit den Augen schaute ich nach links, wo er mittels eines alten Lederriemen dieses Rasiermesser hin und her wetzte. Völlig regungslos sah ich, wie seine zitternde Hand die restlichen Haare aus meinem Nacken kratzte. Dieses Messer hatte schon angelaufene Patina. Es machte jedenfalls keinen glänzenden Eindruck. Nun entdeckte er hinter meinem linken Ohr ebenfalls Handlungsbedarf. Er klappte die obere Ohrhälfte um. Ich hielt den Atem an, seine zitternde Hand kam näher und kurz vor Berührung der Haut wurde sie völlig ruhig, und er kratzte die restlichen Haare weg. Als das überstanden war, brauchte ich nur noch mein zweites Ohr ruhig halten. Als er dann das Rasiermesser einklappte, atmete ich entspannt aus.

Nun nahm er wieder den alten Hornkamm, kämmte mir die Haare, holte einen sehr kleinen Handspiegel und zeigte mir von allen Seiten seine Arbeit. Ich war begeistert, alles perfekt, der Mann verstand sein Handwerk trotz seines Alters.

Als ich später von meiner Frau die Frisur bewundern ließ, meinte sie, dass ich am Hinterkopf bis oben hin, ja gar keine Haare mehr hätte. Jetzt wusste ich auch, was der Frisör meinte, als er sagte, dass ich jetzt ja man wieder vernünftig aussähe.

Nun kam die nächste Überraschung, er stand an der Ausgangstür und wollte seinen Lohn erhalten. Ich glaubte nicht richtig zu hören, 7,50 Euro wollte er nur haben.

Natürlich ist mir seine Freude nicht entgangen, als er mich das erste mal sah, dass er vielleicht endlich mal wieder einen Kunden hatte. Wer weiß schon, wie viele Leute überhaupt noch zu ihm kommen und entdeckt seine Leidenschaft beim Haareschneiden, die mir große Freude beim Zusehen bereitete. All das ging mir durch den Kopf, klar, dass er von mir einen 10 Euroschein bekam, der Rest war Trinkgeld.

Erst war er ein wenig ungläubig, dann schaute er mich an und freute sich. Noch Tage danach dachte ich an diesem Erlebnis. Wieder einmal hat mir mein Schicksal in eindrucksvoller Weise gezeigt, dass Vorurteile einen vom richtigen Leben abhalten können. Was wäre gewesen, wenn ich im Salon auf der Stelle kehrt gemacht hätte (was ich einen Augenblick lang auch tun wollte). Ich hätte viel versäumt.

Wenn Sie mal wieder in Kiel was zu tun haben, lassen Sie sich dieses 1950er-Jahre Ambiente nicht entgehen. Ich jedenfalls fahre das nächste Mal wieder hin.

erstellt am 29.05.2006

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